Der Weihnachtsabend (auch eine Weihnachtsgeschichte) - Page 25

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Ziel. Sage, ist es so mit dem, was Du mir zeigen wirst?“

Der Geist blieb so unbeweglich, wie immer.

Scrooge näherte sich zitternd dem Grabe und wie er der Richtung des Fingers folgte, las er auf dem Stein seinen eigenen Namen.

„Ebenezer Scrooge.“

„Bin ich es, der auf jenem Bett lag?“ rief er, auf die Kniee sinkend.

Der Finger wies von dem Grabe auf ihn und wieder zurück.

„Nein, Geist, o nein!“

Der Finger wies immer noch dorthin.

„Geist,“ rief er, sich fest an sein Gewand klammernd, „ich bin nicht mehr der Mensch, der ich war. Ich will ein anderer Mensch werden, als ich vor diesen Tagen gewesen bin. Warum zeigst Du mir dies, wenn alle Hoffnung vorüber ist?“

[118] Zum ersten Male schien die Hand zu zittern.

„Guter Geist,“ fuhr er fort, „Dein eigenes Herz bittet für mich und bemitleidet mich. Sage mir, daß ich durch ein verändertes Leben die Schatten, welche Du mir gezeigt hast, ändern kann!“

Die gütige Hand zitterte.

„Ich will Weihnachten in meinem Herzen ehren und versuchen es zu feiern. Ich will in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft leben. Die Geister von allen Dreien sollen in mir wirken. Ich will mein Herz nicht ihren Lehren verschließen. O, sage mir, daß ich die Schrift auf diesem Steine weglöschen kann.“

In seiner Angst ergriff er die gespenstige Hand. Sie versuchte, sich von ihm loszumachen, aber er war stark in seinem Flehen und hielt sie fest. Der Geist, noch stärker, stieß ihn zurück.

Wie er seine Hände zu einem letzten Flehen um Aenderung seines Schicksals in die Höhe hielt, sah er die Erscheinung sich verändern. Sie wurde kleiner und kleiner und schwand zu einer Bettpfoste zusammen.

Fünftes Kapitel.
Das Ende.

Ja, und es war seine eigene Bettpfoste. Es war sein Bett und sein Zimmer. Und was das Glücklichste und Beste war, die Zukunft war sein, um sich zu bessern.

[119] „Ich will in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft leben,“ wiederholte Scrooge, als er aus dem Bett kletterte. „Die Geister von allen Dreien sollen in mir wirken. O, Jacob Marley! der Himmel und die Weihnachtszeit seien dafür gepriesen! Ich sage es auf meinen Knieen, alter Jacob, auf meinen Knieen.“

Er war von seinen guten Vorsätzen so erregt und außer sich, daß seine bebende Stimme kaum auf seinen Ruf antworten wollte. Er hatte während seines Ringens mit dem Geiste bitterlich geweint und sein Gesicht war noch naß von den Thränen.

„Sie sind nicht herabgerissen,“ rief Scrooge, eine der Bettgardinen an die Brust drückend, „sie sind nicht herabgerissen. Sie sind da, ich bin da, die Schatten der Dinge, welche kommen, können vertrieben werden. Ja, ich weiß es gewiß, ich weiß es.“

Während dieser ganzen Zeit beschäftigten sich seine Hände mit den Kleidungsstücken: er zog sie verkehrt an, zerriß sie, verlor sie und machte allerhand tolle Sprünge damit.

„Ich weiß nicht, was ich thue,“ rief Scrooge in einem Athem weinend und lachend und mit seinen Strümpfen einen wahren Laokoon aus sich machend. „Ich bin leicht wie eine Feder, glücklich wie ein Engel, lustig wie ein Schulknabe, schwindlich wie ein Betrunkner. Fröhliche Weihnachten allen Menschen! Ein glückliches Neujahr der ganzen Welt! Halloh! hussah! hurrah!“

[120] Er war in das Wohnzimmer gesprungen und blieb jetzt dort ganz außer Athem stehn.

„Da ist die Schüssel, in der die Suppe war!“ rief Scrooge, indem er um das Kamin herumsprang. „Da ist die Thür, durch welche Jacob Marley’s Geist hereinkam, da ist die Ecke, wo der Geist der heurigen Weihnachten saß, da ist das Fenster, wo ich die wandernden Geister sah! Es ist Alles Recht, es ist Alles wahr, es ist Alles geschehen. Hahahaha!“

Wirklich für einen Mann, der so lange Jahre aus der Gewohnheit war, war es ein vortreffliches Lachen, ein herrliches Lachen. Der Vater einer langen, langen Reihe herrlicher Gelächter!

„Ich weiß nicht, den wievieltesten wir heute haben,“ rief Scrooge. „Ich weiß nicht, wie lange ich unter den Geistern gewesen bin. Ich weiß gar nichts. Ich bin wie ein neugebornes Kind. Es schadet nichts. Ist mir einerlei. Ich will lieber ein Kind sein. Halloh! hussah! hurrah!“

Er wurde in seinen Freudenausrufungen von dem Geläute der Kirchenglocken unterbrochen, die ihm so munter zu klingen schienen, wie nie vorher. Bim baum, kling, klang, bim baum. Ach, herrlich, herrlich!

Er lief zum Fenster, öffnete es und steckte den Kopf hinaus. Kein Nebel; ein klarer, luftig heller, kalter Morgen, eine Kälte, die dem Blute einen Tanz vorpfiff; goldenes [121] Sonnenlicht; ein himmlischer Himmel; liebliche, frische Luft, fröhliche Glocken. O, herrlich, herrlich.

„Was ist denn heute?“ rief Scrooge einem Knaben in Sonntagskleidern zu, der unten stand.

„He?“ fragte der Knabe mit der allermöglichsten Verwunderung.

„Was ist heute, mein Junge?“ sagte Scrooge.

„Heute?“ antwortete der Knabe. „Nun, Christtag.“

„’s ist Christtag,“ sagte Scrooge zu sich selber. „Ich habe ihn nicht versäumt. Die Geister haben Alles in einer Nacht gethan. Sie können Alles, was sie wollen. Natürlich, natürlich. Heda, mein Junge!“

„Heda!“ antwortete der Knabe.

„Weißt Du des Geflügelhändlers Laden in der zweitnächsten Straße an der Ecke?“ frug Scrooge.

„I, warum denn nicht,“ antwortete der Junge.

„Ein gescheidter Junge,“ sagte Scrooge. „Ein merkwürdiger Junge! Weißt Du nicht, ob der Preistruthahn, der dort hing, verkauft ist? nicht der kleine Preistruthahn, der große.“

„Was, der so groß ist wie ich?“ antwortete der Junge.

„Was für ein lieber Junge!“ sagte Scrooge. „’s ist eine Freude, mit ihm zu sprechen. Ja, mein Prachtjunge.“

„Er hängt noch dort,“ antwortete der Junge.

„Ist’s wahr?“ sagte Scrooge. „Nun, da geh und kaufe ihn.“

[122] „Hetsch!“ rief der Junge aus.

„Nein, nein,“ sagte Scrooge, „’s ist mein Ernst. Geh hin und kaufe ihn und sage, sie sollen ihn hieher bringen, daß ich ihnen die Adresse geben kann, wohin sie ihn tragen sollen. Komm mit dem Träger wieder her und ich gebe Dir einen Shilling. Komm in weniger als fünf Minuten zurück und Du bekommst eine halbe Krone.“

Der Bursche verschwand wie ein Blitz.

„Ich will ihn Bob Cratchit schicken,“ flüsterte Scrooge, sich die Hände reibend und fast vor Lachen platzend. „Er soll nicht wissen, wer ihn schickt. Er ist zweimal so groß als Tiny Tim. Joe Miller hat niemals einen Witz gemacht, wie den.“

Wie er die Adresse schrieb, zitterte seine Hand, aber er schrieb so gut es gehen wollte, und ging die Treppe hinab, um die Hausthür zu öffnen, den Truthahn

A Christmas Carol in Prose, Being a Ghost-Story of Christmas (wörtlich Ein Weihnachtslied in Prosa, oder Eine Geistergeschichte zum Christfest, deutsch meist Eine Weihnachtsgeschichte) ist eine der bekanntesten Erzählungen von Charles Dickens. Sie wurde im Dezember 1843 mit Illustrationen von John Leech erstmals veröffentlicht.

Veröffentlicht / Quelle: 
Der Weihnachtsabend. J. J. Weber, 1844

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