Gute Nacht Merlin - Protokoll eines Trauerjahres - Page 6

Bild von Sibille Schäfer
Bibliothek

Seiten

junge Mann mit den Koteletten hätte zumindest meine Neugierde gereizt. Er sieht ein bisschen so aus wie der junge Lord Byron... ein Typ auf den damals viele Mädchen abfuhren. Ein Abend in der Jugenddisco... aus dem Lautsprecher vielleicht Donovan "Atlantis"? Vielleicht wäre er bei mir aufgetaut... aber ich war ja so linkisch und unattraktiv als Teenager...
Bei dem gesetzten jungen Herrn im braunen Anzug hätte ich mir mit Sicherheit einen Gebrauchtwagen gekauft -und - vielleicht auch eine Versicherung. Er ist so durch und durch seriös...
Der ernsthafte Herr mit der großen Brille und den tiefen Furchen, die sich von der Nasenwurzel bis zu den Mundwinkeln ziehen, hatte wahrscheinlich viel zu viele Sorgen und viel zu viel Gewichtiges im Kopf, als dass er mich auch nur wahrgenommen hätte...
Bleibt noch der gesetzte Herr um die Fünfzig - der da freundlich und skeptisch durch seine Brille schaut. Ihm fehlt die Leichtigkeit, die der Junge Mann hatte... wo ist sie geblieben? ... ob ich sie gespürt hätte - und gewusst hätte , wie man sie weckt? Aber da ist schon ein leises Lächeln in den Mundwinkeln.. das, was Dein feines und kluges Gesicht heute so anziehend macht.... und die Augen - sie sind auf allen Bildern die gleichen..
Ob ich Dich geliebt hätte, wenn wir uns eher begegnet wären?
Den Jungen mit dem Lockenkopf hätte ich mir als brüderlichen Freund gewünscht, den ernsthaften Herrn mit der großen Brille als Vertrauten und Ratgeber und dem Mann um die Fünfzig, der ganz leise das Lächeln wieder zu lernen scheint... ich glaube, ich wäre ihm aus dem Weg gegangen , um ihm zehn Jahre später wieder zu begegnen..
Merlin - geliebter Freund und Herr... *lächel* Dein geliebtes feines Gesicht mit den Linien, die die Zeit hinein gegraben hat - zärtlich wie mit einem Silberstift... ich würde es nicht tauschen wollen gegen eine jüngere Version... denn DU bist gewachsen, geliebter Freund...
Von ganzem Herzen die Deine …
Cleo“
Von diesem Augenblick an haderte sie nicht mehr mit dem Schicksal, denn sie wusste jetzt: wenn sie ihm zu einem früheren Zeitpunkt begegnet wäre - sie hätten einander nicht erkannt.... es war gut so, wie es war.

Später, als er in Rente ging und kurz danach die Ausbildung zum Rückführungs-Therapeuten begann, erzählte er ihr alles was er auf seinen Seminaren lernte, und sie fing an, zweimal im Jahr bei ihm Rückführungs-Sessions zu machen.
Dadurch lernte sie viel über sich und über die Beziehung zu ihrem Mann. Sie erfuhr, dass sie einander schon seit vielen Leben kannten und eng mit einander verbunden waren. Sie begann, ihren Mann mit anderen Augen zu sehen und fand zu einer neuen Zärtlichkeit . Aber auch IHM, dem Weisen Merlin, war sie in früheren Leben begegnet – und diese Erkenntnis verfestigte und intensivierte ihrer beider Freundschaft, er wurde zur moralischen Instanz für sie und als sie im Jahr 2005 einen Teilzeit-Job in einem Bielefelder Callcenter annahm, telefonierten sie täglich miteinander. Oft überzog sie ihre spärliche Pausenzeit deswegen – und sie setzten dann das begonnene Gespräch fort, wenn sie Feierabend hatte und mit dem Zug zurück nach Hause fuhr. .... Sie fragte ihn um Rat, vertraute ihm grenzenlos – und sie teilten die schönen Augenblicke ihrer beider Leben miteinander - von der Geburt seiner Enkelkinder bis hin zu den ersten Frühlingsblumen .

Als sie und Ihr Mann im Jahr 2005 wegen ihres politischen Engagements aus dem Bezug von Hartz IV heraus sanktioniert wurden und sie sich endgültig für die aktive Sexarbeit entschied, verfolgte er das mit offenem und vorurteilsfreiem Blick. Er lächelte, als sie ihm von ihren ersten Erfahrungen berichtete und sagte dann etwas, das für sie richtungsweisend war:
„Im Grunde genommen bist Du der Engel der ungeliebten Männerherzen“.
Sie war stolz als er das sagte – es ist eine Ehre, dachte sie.
„Engel der ungeliebten Männerherzen“ – damit adelte er ihre Tätigkeit und machte sie zu einer Berufung.
Sie war unvoreingenommen und bedenkenlos in dieses Metier hinein geschlittert - immer in dem Bewusstsein, nichts Ungesetzliches oder Sittenwidriges zu tun. Zunächst inserierte sie in der Lokalzeitung mit dem Slogan “Deine Adresse für Streicheleinheiten”.
Die Resonanz überraschte sie.
Nach der Anfangszeit, in der sie sich mit ihren Gästen in einem Motel an der nahe gelegenen Autobahnauffahrt getroffen hatte, richtete sie sich zuhause in der Einliegerwohnung im Erdgeschoss ein Arbeitszimmer ein. Dieses Zimmer wurde in den folgenden Jahren ihr Lebensmittelpunkt. Hier empfing sie nicht nur ihre Gäste - sondern sie meditierte auch in diesem Raum und zündete jeden Abend eine Kerze für IHN an. Und es wurde im Laufe der Jahre der Ort, an dem sie IHN traf. Er schenkte ihr vieles, um dieses gemeinsame Refugium zu schmücken und prägte auf diese Weise den Raum. Und wenn sie ihr Arbeitszimmer betrat, hatte sie oft das Gefühl, dass ER sie dort erwarte.

Nach und nach fand ihr Leben wieder zurück in halbwegs geordnete Bahnen: vormittags arbeitete sie im Callcenter in Bielefeld, nachmittags empfing sie gelegentlich einen Gast. .Die Sexarbeit gehörte für sie zum Alltag, wurde selbstverständlich – auch für ihren Mann - und sie sah keinen Grund, diese Nebentätigkeit zu verschleiern, geschweige denn, sich dafür zu schämen.
Durch den Umgang mit ihren Gästen gewann sie das Selbstwertgefühl zurück, das ihr bei ihrer Arbeitssuche und im Jobcenter systematisch genommen worden war und um das sie jeden Tag an ihrem Arbeitsplatz im Callcenter aufs Neue kämpfen musste.
Ihre Gäste, die sie durch die Bank freundlich und respektvoll behandelten - weil SIE ihnen ebenso entgegenkam - und die täglichen Telefonate mit IHM, dem Weisen Merlin, stärkten ihr den Rücken. Sie machte also auch kein Geheimnis aus ihrem Metier, -zeigte auf den Fotos im Internet in den Foren, über die sie ihre Gäste akquirierte und auf der Homepage, die sie für die Kundenakquise erstellt hatte, immer ihr Gesicht. Und anscheinend war es den Menschen in ihrer Umgebung gleichgültig, wovon sie lebte und wie sie ihr Geld verdiente.
Aber das war ein fataler Irrtum: Gerade, als sie und ihr Mann angefangen hatten, wieder Tritt zu fassen und ihr Leben vorsichtig zu konsolidieren –

Der Bilderzyklus von dem in diesen Aufzeichnungen die Rede ist, kann auf der Facebook-Seite "Eros und Thanatos - Liebe und Tod" eingesehen werden

Seiten

Interne Verweise