Wir waren „das Müllergesocks“: acht verwilderte Satansbraten einer Prollsippe aus dem heruntergekommenen Fabrikgebäude an der Süderelbe am Stadtrand; ein rotzfrecher Rattenschwanz, den die „versiffte Assi-Mischpoke Müller“ im Schlepptau hatte.
Seit Ingo Krauses Vater, einziger Optikermeister im Ort, dessen sündhaft teure Brillengestelle Fehlsichtige zu täglicher Augengymnastik zwangen, beim Mittagessen, in Anwesenheit seiner exaltierten Gattin nebst missratenem Sohn, verlauten ließ, eine nicht unbeträchtliche Reihe seiner Kundschaft, die ausnahmslos Müller, Maier, Schulze oder Moser hießen und mit ihren einfallslosen Familiennamen die Republik überschwemmten, stünden bei ihm dermaßen hoch in der Kreide, dass sich Gemahlin und Spross den Traum vom eigenen Pferd unterm Christbaum aus dem Kopf schlagen könnten, kursierte an unserer Schule der Spruch: „Vertraue keinem, der Moser, Müller, Maier oder Schulze heißt: Kinder ohne Ende, Schulden bis zur Halskrause, Trunksucht und Idiotismus.“ Es lag auf der Hand, wer für diesen Schwachsinn, der wie ein Lauffeuer die Runde machte, verantwortlich war; aber Ingo, dumm wie Brot, hatte wie sein Vater, dem trotz einschlägigen Berufs nicht der geringste Durchblick eigen war, übersehen, dass allein im örtlichen Telefonbuch an die dreihundertfünfundsechzig Krauses verzeichnet waren, folglich mehr als Müller, Maier, Schulze und Moser zusammen.
Ich heiße Margret Müller, Meggie genannt, und habe sieben Geschwister. Nachdem die Sache mit Butjie passiert ist, braucht Vater nur mehr vier Mäuler zu stopfen. Aber ich will von vorn beginnen: Wir wohnten damals ziemlich weit außerhalb des Ortes, in einem uralten Haus, das jahrelang leer gestanden hatte – ein riesiges Fabrikgebäude, worin nach der Zwangsversteigerung - der Zuschlag ging an die Stadt – Seminare für alternative Heilmethoden stattfanden: Qigong, Tai‑Chi und so’n Kram. Irgendwann beschlossen die Ratsherren, die Kurse ins Schloss neben dem Rathaus zu verlegen, das verkehrsgünstiger lag und größeren Profit versprach. Das alte Fabrikgemäuer wurde notdürftig umgebaut und an kinderreiche Familien vermietet. Einzig und allein Mathilde und Malte, ein Rentnerehepaar weit über siebzig, das im Erdgeschoss lebte, war ohne Anhang. Dafür hatten sie Butjie. -
Die separate Haustür ihrer kleinen Wohnung lag dem Hinterhof zugewandt, während die Fenster zur seitlichen Auffahrt zeigten, die selten von jemand anderem als Mathilde, Malte und uns Kindern benutzt wurde, beispielsweise wenn wir Verstecken spielten. Dann fegten wir zu Mathildes großer Entrüstung um eben diese Ecke wie die heftigen Stürme, die im Herbst unsere Stadt heimsuchten.
Vor Mathildes und Maltes winzigen Fensterchen, die nebeneinander lagen wie die sieben Zwerge Schneewittchens in ihren Bettchen, hatte Mathilde ein Gärtchen mit Hortensien gepflanzt, die pünktlich im August, wenn auch farblich sehr dezent, heftig blühten. Jeden Freitagmittag zog Malte zwei saubere Reihen mit einer feingezinkten Harke neben das Beet, und wehe, jemand geriet aus Versehen mit dem Fuß darauf. Dann hieß es mal wieder: Die dämlichen Müller-Gören „petten“ ständig auf das Geharkte. Mathilde konnte ganz ekelhaft keifen. Immer nur mit uns, nie mit den Kaiser-Blagen oder mit Butjie. Butjie war ihr Ein und Alles. „Wetten, dass Butjie ihr mehr am Herzen liegt als Malte“, griente mein um ein Jahr jüngerer Bruder Berthold von Zeit zu Zeit.
Seit Gerlinde, Alina, Berthold und ich wegen der Sache mit Butjie im Jugendheim leben – Berthold sagt, dass sei mehr oder weniger eine aparte Umschreibung für Besserungsanstalt -, geht es mit uns bergauf. Echt jetzt: Wir werden von Tag zu Tag besser. Gestern hat sich Gerlinde freiwillig zum Küchendienst gemeldet, und Berthold wünschte unserem Schließer ein schönes Wochenende. Allein deshalb, dass es an diesem Ort Schließer gäbe, sagt Bertholt, könnten wir davon ausgehen, dass wir uns in einem Hochsicherheitsknast für Jugendliche befänden. Dabei ist es gar nicht so übel hier. Nur das Essen könnte besser sein; ständig wird uns dieses Optikermenü aufgetischt: fade Linsensuppe, die mich an Ingo Krause erinnert, was ich nun wirklich nicht haben muss.
Nicht, dass wir vor Maltes tödlichem Unfall wahnsinnig schlecht gewesen wären; wir waren damals längst nicht so fies wie die Kaiserbrut aus dem Dachgeschloss. Oder wie würden Sie es nennen, wenn man eine neunzigjährige Frau vom Fahrrad stößt - allein deshalb, weil sie auf dem Sattel gesessen habe, als hätte sie einen Stock gefressen. Die alte Frau Heldt erlitt daraufhin einen Herzinfarkt und wäre um ein Haar gestorben. Aber die hundsgemeine Bagage hieß ja „Kaiser“ und nicht „Müller“, wie wir, und blieb unbestraft, eine Herabwürdigung von uns Müller-Kindern, wenn Sie mich fragen.
Allerdings bin ich echt froh, dass uns das Theater erspart blieb, das die poplige Verwandtschaft der alten Frau veranstaltet hätte, wenn eines von uns Müller-Kindern an diesem Coup beteiligt gewesen wäre. Dabei warte die geldgeile Bande doch nur darauf, dass das alte Weib abkratzt, um an deren Haus und das Ersparte zu kommen, hat Berthold verächtlich geschnaubt.
Also Butjie, der war echt ein Ausbüxer, obwohl er es wahnsinnig gut bei Mathilde und Malte hatte. Der lebte dort wie die Made im Speck. Aber so sei das nun mal mit den Kanaries, sagte Berthold: gerade mal schlappe fünfzig Gramm auf die Waage bringen, aber Ansprüche stellen. Seit Butjie zum ersten Mal aus dem Käfig getürmt war, brütete Berthold stundenlang über voluminöse ornithologische Wälzer aus der Bücherhalle.
Wenn Butjie mal wieder die Flatter gemacht hatte, weil Mathilde vor dem Lüften vergaß, dass die Käfigtür geöffnet war, konnte man hochsommers jedweden Gedanken an Schlaf begraben. Bis in die späte Nacht hinein drang Mathildes zittrige, ultrahohe Altweiberstimme durch die wegen der Schwüle geöffneten Fenster bis an unser Bett: „Komm, Butjie, Butjie, Butjie, kooommm.“ So zärtlich wurden wir nie zum Abendessen gerufen. Da konnte man richtig neidisch werden.
Meistens verkroch sich Butjie im Laubwerk des alten Kastanienbaums, der vor der umfrisierten, maroden Betriebsstätte wuchs. Das war sein erklärter Lieblingsplatz. Wenn Mathilde ihn mit ihren schwachen Augen erspäht hatte, wuchtete Malte die hohe Leiter aus dem Schuppen und pflückte Butjie aus dem Blätterdach wie eine reife gelbe Pflaume.
„Was für ein selten blödes Vieh und feige wie ein Huhn. Wetten, der schafft das nie bis nach Afrika“, spie Berthold jedes Mal abfällig aus, wenn Butjie nach seinen Ausbruchsversuchen mal wieder im Käfig gelandet war.
„Wir müssen dem armen Tier endlich zur Freiheit verhelfen, Richtung Afrika“, schlug Gerlinde eines Tages vor. „Käfighaltung sollte verboten werden.“ Auf ihr Gesicht stahl sich ein verschlagenes Grinsen, das mir außerordentlich missfiel. -
Wir hockten mal wieder auf dem kleinen Dach von Maltes Schuppen, das mit knubbeliger Teerpappe ausgeschlagen war und uns hin und wieder blutige Riefen in die Haut riss, und diskutierten das Weltgeschehen. Besonders nahe ging uns in jenen Tagen die Sache mit Natascha Kampusch, obwohl Berthold meinte, er würde so einiges in Kauf nehmen, wenn er dafür nicht mehr in die Schule müsste. Ich hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht.
Vater hat immer behauptet, Gerlinde sei mit Abstand das intelligenteste seiner acht Kinder. Ich fragte mich dann jedes Mal, weshalb sich ihr hoch gepriesener Scharfsinn nicht einen Deut in ihren Zeugnissen niederschlug. Allein mit Desinteresse und Faulheit lässt sich dieses Versagen wohl kaum erklären - wenn Sie mich fragen.
Gerlinde habe das Zeug dazu, Banken auszurauben, sagte Vater halb im Scherz, wenn „das intelligenteste seiner acht Kinder“ mal wieder mit einer Fünf in Deutsch heimkam – als wolle er sie damit trösten. Aber wer, frage ich Sie, raubt heutzutage noch Banken aus, wo doch mittlerweile in jedem Kiosk Videokameras hängen. Nicht mal Ingo Krause würde auf eine derart schwachsinnige Idee kommen.
Seit Vater im nahe gelegenen, neu errichteten Braunkohlekraftwerk als Rohrschlosser malocht, fühlt sich selbst Mutter permanent verstrahlt. Nicht allein draußen waberten Schwefelgase und Feinstaub, selbst bei uns drinnen herrsche neuerdings dicke Luft. Das sei der Preis für die Energiewende, sagt Berthold. Jetzt müsse die Umwelt erst recht dran glauben.
Berthold war für Gerlindes Plan, Butjie nach Afrika zu verhelfen, Feuer und Flamme und steckte uns mit seiner Begeisterung an; wir mussten nur noch den richtigen Zeitpunkt abpassen.
Einige Tage später, Mathilde und Malte dösten auf der Bank unter dem dichten Laub der altehrwürdigen Kastanie, Butjies bevorzugtem Ausflugsziel, stumpfsinnig vor sich hin, schlichen wir uns in die unverschlossene Wohnung und befreiten Butjie aus dem Käfig. Berthold musste ihm den Schnabel zubinden, sonst wäre sein schrilles Gekeife bis auf die Straße gedrungen.
Die letzte Stunde in Gefangenschaft verbrachte Butjie in einem Vogelbauer, den wir aus dem Sperrmüll gefischt hatten. Wir haben es uns nicht nehmen lassen, Butjie ein Stückweit auf seiner Reise zu begleiten. Ich kann nicht sagen, dass es Butjie im D-Zug wahnsinnig gut gefallen hätte. Er piepste unaufhörlich vor sich hin. Es hörte sich erbärmlich an, als seien wir Monster, die ihn aufs Übelste drangsalierten. Dabei hatten wir nur sein Bestes im Sinn.
„Hoffentlich ist die kleine Dumpfbacke bald still. Das ist ja nicht zum Aushalten“, hat Berthold gestöhnt. - „Guten Flug, Butjie“, hat Gerlinde ihm nachgerufen und diabolisch gegrient, als wir Butjie hinter Braunschweig in die Freiheit entließen. Ich war damals drauf und dran, ihr eine runterzuhauen.
Dann kam das dicke Ende – in Gestalt von Mathilde, die keineswegs eine Knödelfee, sondern spindeldürr war. Irgendwann konnten wir ihr Gejammer nicht mehr ertragen. Tag und Nacht dieses zittrige, ultrahohe „Kooomm, Butjie, Butjie, Butjie - kooooooom!“ Wir besorgten uns aus dem Pet-Shop Butjies Ebenbild in zitronengelber Plaste, und Berthold klebte das Teil gut sichtbar auf einen Ast der Kastanie. Dann rannten wir zu Mathilde und Malte, um die frohe Botschaft zu verkünden. Sie hätten das von Alter und Leid zerfurchte Gesicht Mathildes sehen sollen: Sie strahlte, als habe die Sonne sie geküsst.
Dass Malte beim Aufstieg vor lauter Aufregung von der Leiter gestürzt ist und sich das Genick gebrochen hat, haben wir wirklich nicht gewollt. Mathilde hat sich danach überhaupt nicht mehr um Butjie geschert. - „Sie hat Malte doch mehr geliebt als Butjie, du Blödmann, ätsch!“, hat Alina Berthold auf Maltes Beerdigung zugezischt.
Als Mathilde sich drei Wochen später vor Kummer das Leben nahm, ist Alina, das gute Kind, zu den Bullen getrabt und hat uns alle verpfiffen. Das schlechte Gewissen hat ihr keine Ruhe gelassen.
Mittlerweile geht es uns echt gut hier: Berthold lernt Feinmechaniker, Gerlinde und Alina arbeiten in der Schneiderei, und ich bereite mich auf das Abi vor, um Theologie zu studieren. Trost braucht ein jeder mal in seinem Leben, oder was meinen Sie? Selbst mich packt an manchen Tagen das heulende Elend, und dann frage ich mich, was wohl aus Butjie geworden ist.
Meggie Müller,
Jugendstrafanstalt Vogelsang
Diese kurze kriminalistische Begebenheit hätte durchaus so passieren können, wie ich sie geschrieben habe. Liest man die Zeitschrift "Crime", dann weiß man, dass alles Böse unter der Sonne möglich ist. Aber wir, Kinder von weitestgehend guten Eltern, haben uns lediglich erlaubt, Verstecken zu spielen, rund um die große, schöne Villa. Dazu mussten wir auch an den Freitagen um die Ecken sausen, weil man erst angetickt werden musste, um als "entdeckt" zu gelten. Jedes Mal, wenn vor mir die Ecke mit Maltes und Mathildens Wohnung in Sicht kam und ich die scharfe Kurve kriegen musste, hinter mir keuchten meine "Verfolger", habe ich gedacht: "Hoffentlich gerate ich nicht aus Versehen aufs Geharkte." Manchmal war das leider nicht zu vermeiden. Dann haben Malte und Mathilde schrecklich gekeift. - Die Hortensien blühten wirklich sehr schön im Gärtchen vor Maltes und Mathildens Fensterchen. - Die Namen sind geändert; nur Butjie hieß wirklich Butjie. Malte und Mathilde, zu denen wir ein ganz normales Verhältnis hatten, sind beide eines natürlichen Todes gestorben. Gott habe sie selig. - Wahr ist auch, dass Butjie ständig ausgebüxt ist, obwohl er es echt gut hatte bei Malte und Mathilde. Wahr ist außerdem, dass Mathilde einem den letzten Nerv rauben konnte mit ihrem ewigen: "Komm, Butjie, Butjie, koooommmmm!"- Manchmal suchte die ganze Nachbarschaft mit; aber eines Tages schien Butjie wie vom Erdboden verschluckt. Ob er es bis nach Afrika geschafft hat, wissen wir nicht. Hoffentlich nicht, denn dort wäre es zu heiß für ihn gewesen, was Gerlinde gewusst haben musste ...