Einleitung "Ein Ofen, ein Schloss und Menschen" (01)

Bild von Johannes Müller-Viezens
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Die Gruppe hat sich im großen Saal versammelt. Es ist Nacht, wenige Minuten vor Mitternacht. Man diskuiert den heutigen Tag. Erwartungen, die keine solchen sein möchten, erfüllen den Raum. Der Raum selbst wirkt erhaben. Es handelt sich um einen Saal mit einer hohen Decke, Stuck und bemalten Wänden, die alte Jagdszenen zeigen. In der Mitte der Decke befindet sich ein rundes Relief mit Stuck, an dem die Spuren eines Kronleuchters zu erkennen sind. Doch die Erhabenheit des Raums wird durch jüngste Einwirkungen gebrochen. An den Wänden hängen Wandzeitungen, die die Geschichte des Jagdschlosses erzählen. Ein Jugendlicher könnte sie wohl hergestellt haben. An der Decke befindet sich eine Collage aus Papierservietten in unterschiedlichen Farben. Als Beleidigung für das Auge, hat es dennoch eine chaotische Schönheit. Die Gespräche der Personen gleiten an mir vorbei. Zwar höre ich, was sie sagen, finde sie dennoch kaum eines Gedankens wert. Viel interessanter ist die Frage, was diese Leute dazu bewegt hat, sich an diesem Wochenende hier zu versammeln. Was sind wohl ihre Motive? Bei einigen habe ich eine Ahnung, woraus ihr Leben gestrickt sein könnte, bei anderen kann ich nur raten. Ihre Worte kommen mir viel zu sehr wie eine albern bemalte Maske vor, als dass ich ihnen lange lauschen könnte. So wirklich offenbaren wollte sich hier niemand und selbst, wenn man sich die Mühe machen wöllte mit den letzten bis spät sitzen zu bleiben, würden sie ja doch nur die Gelegenheit nutzen, um mehr von ihren an der Oberfläche sichtbaren Problemen zu berichten, erahnend, dass die Umgebung die Bedeutung ihrer Wort unterstreichen würde, als ihre Gründe zu erkunden. Vorerst bleibe ich dabei, sie zu beobachten.
Die Gruppe hat sich in einem Halbkreis um einen Ofen positioniert, während ich selbst auf einem gemütlichen Canapé am Rand unter den großen Fenstern sitze. Der Ofen steht vor einem mit Backsteinen zugemauerten Kamin und wird mit dicken Holzscheiten beheizt. Die Wärme, die von diesem archaisch anmutenden Objekt ausgeht, ist für jemanden, der in eine zentralbeheizte Umgebung geboren wurde und nur diese kennt, nur auf Umwegen zu verstehen. Als ein jener Mensch kennt man häusliche Wärme nur als etwas, dass Einen dumpf von allen Seiten umgibt, lediglich unterbrochen vom plötzlichen Wind eines geöffneten Fensters. Vielleicht mag man auch an Abdominationen wie den Heizpilz denken, der eine erdrückende, geradezu niederschmetternde Wärme auf die Menschen ausstrahlt, die sich auf Weihnachtsmärkten um ihn versammeln. Die Wärme eines Ofens ist eine Andere.
Zwar sträubt sich mein Inneres gegen folgende, verwässerte Formulierung, jedoch komme ich nicht umhin, die Wärme des Ofens als natürlich zu empfinden. Ich kann es nur so in Worte bringen: sie hinterlässt den Eindruck, weniger von den egoistischen Bedürfnissen der Menschen überformt zu sein. Sie weigert sich, den Anspruch der Massen nach einer einfach zu kontrollierenden Umgebung zu erfüllen. Aufdrehen: warm, abdrehen: kalt, so einfach soll das sein. Dem Spüren der Umgebung, dass in den Facetten der körperlichen Empfindung verborden liegt, kann man sich anscheinend erst in einem riesigen Rittersaal mit archaischem Holzofen bewusst werden, denn ein ökonomisch denkendes Kollektiv nimmt auf solche Details keine Rücksicht. Auch mit naturwissenschaftlicher Perspektive kann man sich diesem Phänomen nicht nähern. So findet im Ofen zwar eine mit den Mitteln der Physik erklärbare Reaktion statt, die eine bestimmte Dauer und eine messbare Temperatur hat, deren Energieausstoß sich berechnen lässt, allerdings bleiben die Wirkungen auf den Menschen und sein Gefühl für den Raum dabei verborgen.
Ein Ofen scheint eine Struktur in einen Raum zu bringen. Er schafft einen Punkt, auf den sich die Menschen wie von selbst fixieren. Dieser Fokuspunkt entsteht nicht durch blendendes Licht auf einer Leinwand oder dröhnende Lautsprecher, Invasoren der eigenen Sphäre, sondern durch die grundlegendste Macht der Zivilisation, das Feuer. Dieserwerden sich die Anwesenden nur durch ein zärtliches Gefühl bewusst. Die Wärme einer Zentralheizung hingegen ist nur eine dumpfe Anwesenheit, der jegliches Vermögen fehlt, ihre Umgebung zu kontrollieren. Das Feuer im Ofen hingegen ist eine Gewalt, die ihre eigenen Grenzen zu überwinden vermag. Man kann es in einem Ofen einschließen oder in einem Kamin separieren, man kann Stein- oder Keramikfließen darum errichten, es mit Granit ummauern oder mit Metal gefangen halten, aber seine Kraft wird alle Menschen in einem Raum immer an seine Anwesenheit erinnern. Die Wellen aus Wärme werden durch jede Kleidung dringen, die Haut sanft umschließen, die kleinsten Härchen auf den Armen bewegen, den Körper durchfließen und es wird dir bewusst werden, dass im Raum eine Grundgewalt des Universums anwesend ist. Du kannst das Feuer entfachen, füttern und erlöschen lassen, aber es wird dir niemals gehören können. Diese zärtliche Macht, diese dominante Behaglichkeit, die in jedem Unterbewusstsein den Funken von Göttlichkeit und Vernunft wecken muss, wirkt in diesem Moment auch auf die Gruppe, die sich in diesem alten Gemäuer versammelt hat. Ohne, dass sie sich der Wirkung ihrer Umgebung bewusst werden, wird sie ihre Wirkung auf ihre Gemüter tun. Und so gut die Entschlüsse sein werden, die hier gefasst werden und so tief die Eindrücke sich einbrennen werden, so wenig wird man sich ihrer erinnern, kehrt man an jenen anderen Ort zurück, der das eigentliche Zentrum unserer Geschichte ist. In der Zeit meines Sinierens war eine der Bewohnerinnen des Guts durch den Saal gelaufen und hatte mehr zu den anderen als zu sich selbst gesagt: "Wir sollten diesen Raum wirklich öfter anheizen.".
Die Gespräche der Gruppe unterdessen wollten mich noch immer nicht begeistern. In letzter Zeit erscheinen mir Gespräche als ein absonderlicher Vorgang. Nicht aufgrund der Sätze und ihrer Struktur oder der Aussagen an sich, sondern aufgrund der verwirrten Absichten, die die Menschen verfolgen, von denen sie meist selbst nicht so recht verstehen, was sie eigentlich damit bezwecken wollen und wenn sie sich doch zumindest einer zweifelhaft gewissen Absicht bewusst sind, vielleicht aber auch nur einen solchen Anschein erwecken wollen, widersprechen dennoch die Folgen ihrer Handlungen meist jeder noch so gut gemeinten Interpretation einer Absicht. Doch selbst dann, wenn Absichten, Handlungen und Folgen konsistent erscheinen, sind ihre Absichten meist entweder unverantwortlich selbst- oder in dreister Weise fremdzerstörerisch, dass man entweder annehmen muss, die Absicht wäre nicht ernsthaft formuliert oder durchdacht gewesen oder der Wille zur Zerstörung sei Triebfeder ihres Handelns. Das hat zur Folge, dass die meisten förderlichen Ideen, die ja durchaus in jedem Kopf entstehen oder die versucht werden in einen solchen hineinzubringen, den Weg ins dunkle Nichts der niemals umgesetzten Einfälle nehmen.
Zwar sind die meisten der hier versammelten nicht weniger als Chaoten, aber dennoch mit moralischen Grundsätzen. Die meisten räumen sich einfach nicht die notwendige Zeit ein, wirklich wichtige Gedanken zu einem Ende zu denken. Was das alles so unheimlich bedrückend macht, ist nicht der Unwille, sondern der Wille. Stehen verünftige Menschen vor einem moralischen Konflikt, nehmen sie sich die Zeit, zu denken und eine Lösung zu finden. Dadurch entsteht ihnen ein Vorteil gegenüber denjeniger, die dies nicht tun. Am Ende dieses Prozesses, der die Einsicht über die eigene Macht der Vernunft mit sich bringt, wird man sich der Verantwortung bewusst, die mit dem Wissen einhergeht. Und diese vermag viel mehr Angst zu machen, als ein konkretes Problem es kann. So muss man sich letztendlich entscheiden: will man seine Verantwortung einfach zurücklassen und frei davon die Welt mit seinen Konsequenzen verheeren oder will man nur soviel davon aufnehmen, dass man zumindest sein Gesicht vor seiner direkten Umgebung wahren kann? Nicht wenige entscheiden sich letztendlich, ihre Handlungen so zu koordinieren, dass sie möglichst nie in Situationen geraten, die eine Verantwortung nach sich ziehen und kommen so am Ausgangspunkt wieder an.
So wandern meine Gedanken umher, während ich die Leute im Rittersaal von meinem Canapé aus betrachte, und meine Leser indess sitzen vor ihren Bildschirmen und fragen sich, was dies denn alles zu bedeuten habe und wollen mich vollkommen zurecht dazu herausfordern, doch nun endlich zu erzählen, aus welchem Grund sich unsere Gruppe hier an diesem ungewöhnlichen, abgeschiedenen Ort eingefunden hat. Eure Neugier wird befriedigt werden, soviel kann ich versprechen, doch zuerst muss ich etwas anderes erzählen, wieder abschweifen und euch vergangene Zeiten und entfernte Welten berichten. Verweilt hier auf meinem Canapé, von der Anwesenheit des Feuers umgeben und lasst euch von mir berichten, wie sich die Fäden, die nun einmal unsere Leben sind, zu einem Garn verspinnen und sich das Garn zu einem Teppich verwebt, von dem wir nur erahnen, was seine Muster bedeuten können.

Dies ist die Einleitung zu einer Serie. Jedes Kapitel wird ein neuer Faden sein.

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