Es war einfach. Aber das hatte ich auch nicht anders erwartet. In meinem Beruf war das eine Grundvoraussetzung. „Geh schwierigen Sachen aus dem Weg und mach die einfachen Dinge!“ Dies war die erste Regel, die ich gelernt hatte und ich befolgte sie gewissenhaft. Es war auch gar nicht nötig, mich mit komplizierten Dingen zu beschäftigen, dafür gab es zu viele Alternativen. Eine von ihnen war der Mann in der grauen Regenjacke, der in der Fußgängerzone vor dem Schaufenster einer Boutique stehen geblieben war und in seiner Einkaufstasche herumkramte.
Ich kannte solche Typen. Alleinstehend, ein wenig eigenbrötlerisch und etwas zerstreut. Gerade diese letzte Eigenschaft zog mich unwiderstehlich an. Wie ich es erwartet hatte, bemerkte er mich fast gar nicht, bis ich ihn anrempelte. Aus Versehen, wie er es deutete, unbedingt notwendig, wie ich wusste.
„Entschuldigen sie“, sagte ich und legte ihm die Hand auf die Schulter. Fest genug, dass er sie dort spürte.
Der Mann war sicherlich über sechzig und etwas kleiner als ich. Als er mir nun den Kopf zuwandte, sah er schräg zu mir empor.
„Was?“ fragte er und klammerte sich fester an seiner Einkaufstasche.
Ich aber hatte meine Hand bereits wieder von seiner Schulter gelöst und ging weiter. „Wenn der Job erledigt ist, sieh nicht zurück!“ Dies war die zweite Regel und dieser Job war erledigt. Ich spürte die Brieftasche des Mannes in meiner Hand, die ich nun im meiner Jacke verborgen hielt. Später würde ich das Geld herausnehmen und alles andere wegwerfen. „Behalte nichts, was zurückverfolgt werden kann!“ Das war der letzte Grundsatz, den ich mir zu Eigen gemacht hatte. So ging ich die Straße der Fußgängerzone unbeirrt entlang, in jener entspannten Hektik, wie es die Passanten um mich herum auch taten.
Komplizierte Sachen entstehen in der Regel durch unsere eigene Fehlerhaftigkeit. Irgendein kluger Mann sagte einmal: Entwerfe einen Plan und wenn dieser in deinem Kopf fertig ist, so handele danach. Weichst du nur einen Millimeter davon ab, so führt das unweigerlich zur Katastrophe. An diesem Tag aber dachte ich nicht daran.
Ich dachte überhaupt nichts. Zu oft hatte ich den Trick schon durchgeführt, um mir Sorgen zu machen. So blieb ich stehen, zündete mir eine Zigarette an und sah die Straße zurück zu dem Mann, der mein letztes, unwissendes Opfer geworden war.
Ich sah ihn immer noch dort an dem Schaufenster jener Boutique, die Sommerkleidung für Frauen anbot. Der Mann aber achtete nicht auf die Auslagen. Er kramte auch nicht mehr in seiner Einkaufstasche. Der Mann kniete auf dem Boden und fasste sich an seine Brust. Gerade in dem Augenblick, als ich zu ihm hinübersah, knickte er zur Seite weg und fiel auf seine Einkaufstausche, die er bereits los gelassen hatte.
Die Passanten wandten ihm im Vorbeigehen den Kopf zu. Doch blieben sie nicht stehen. Vielleicht mochten sie ihn für einen Säufer halten. Ich wusste, dass er es nicht war.
Um die Zigarette anzuzünden, hatte ich meine Hand aus der Jackentasche gezogen. Nun aber befühlte ich mit ihr unwillkürlich den Inhalt und spürte die harten Abmaße der Brieftasche. Dies war der Augenblick, in dem ich meinen Weg noch hätte fortsetzen können. Dreh dich um und geh weiter, sagte ich zu mir. Aber ich wandte mich nicht um. Ich sah immer noch zu dem Mann hinüber, der nun fast reglos auf dem Pflaster der Fußgängerzone lag, ohne dass einer der Passanten stehen blieb.
Menschen wie ich besitzen kein Mitleid. Andernfalls könnten wir unsere Tätigkeit nicht ausüben. Wir stehlen Brieftaschen, manchmal auch Schmuck. Keinesfalls machen wir uns Gedanken über die Opfer. Sie mussten den Verlust schon verschmerzen. Manchmal bemerkten sie es erst nach einigen Stunden. Sicherlich waren sie wütend und einige von ihnen erstatteten eine Anzeige. Das gehörte nun einmal dazu. Doch keinesfalls, dass meine Opfer auf dem Boden lagen und sich krümmten.
Ich wartete einige Sekunden, um zu sehen, dass sich einer der Passanten schließlich doch zu dem Mann hinunterbeugte und ihm half. Daraufhin hätte ich meinem Instinkt folgen und fortgehen können. Doch niemand tat mir den Gefallen. Wieder befühlte ich die Brieftasche in meiner Jacke. Sie wog inzwischen so viel wie eine Monolith.
Aber ich zögerte, dem Mann zu helfen. Wenn ich zurückging und mich neben ihn kniete, mochte ein Beobachter glauben, ich würde ihn berauben. Woher hätte er auch wissen sollen, dass es schon längst geschehen war? Das Risiko war zu groß.
So stand ich kaum einhundert Meter entfernt unschlüssig herum und hoffte, dass der Mann wieder aufstehen würde. Aber er tat es nicht und ich bekam Angst. Immerhin war es kein Unbekannter für mich. Ich hatte ihn bestohlen, ich hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und nun rührte er sich nicht mehr. Vielleicht hatte er eine Herzattacke erlitten. Irgendwann würde schon jemand stehen bleiben, dann aber war es möglicherweise zu spät. Sie würden den Verlust der Brieftasche wahrscheinlich nicht sofort bemerken, ganz sicher aber später. Mochte der Diebstahl in einem direkten Zusammenhang mit der Herzattacke stehen oder nicht, die Zeitungen würden es jedenfalls so darstellen. Bei dem Gedanken, für den Tod des Mannes öffentlich verantwortlich gemacht zu werden, wurde mir übel. In dieser Branche war ich nicht tätig. Ich war nur ein Dieb.
Dann ging alles sehr schnell. Achtlos ließ ich die Zigarette auf den Boden fallen und rannte zu dem Mann hinüber. Als ich mich neben ihn niederkniete, zuckte er noch ein wenig. Ich legte ihm meine Hand auf die Schulter und ruckelte heftig an ihr. Der Mann aber reagierte nicht darauf. Ich wandte mich um. Einige Passanten waren stehen geblieben und beobachteten uns wie eine Fußgängerattraktion.
„Rufen sie den Notarzt!“ rief ich dem Nächstehenden zu.
Der junge Bursche sah mich verwirrt an. Er schien überrascht, dass ich ihn direkt angesprochen hatte.
„Machen sie schon!“ schnauzte ich ihn an und er zuckte zusammen. Dann aber zog er sein Mobiltelefon aus der Tasche und wählte die Nummer.
Ich versuchte mich an alles zu erinnern, was ich über erste Hilfe gehört hatte, aber es fiel mir nichts ein. War die Seitenlage besser oder sollten die Füße hochgelegt werden? Ich wusste es nicht, doch erinnerte ich mich daran, dass in Filmen immer auf den Brustkasten gedrückt wurde. Ich legte meine Hände über Kreuz und begann, zu pumpen.
Der junge Bursche hatte inzwischen sein Mobiltelefon wieder eingesteckt und schien sich nun persönlich verantwortlich. Jedenfalls kam er zu mir und kniete sich ebenfalls neben den Mann.
„Der Notarzt ist sofort da“, sagte er und sah mich verschwörerisch an.
Ich hatte keine Zeit zu antworten. Nun, nachdem ich mit dem Pressen begonnen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Ich wusste nicht, ob es richtig war, doch wollte ich keinesfalls aufgeben. Der Mann am Boden ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken.
Aus der Ferne hörte ich die Sirene des Notarztes. Das Geräusch beruhigte mich ein wenig, mehr jedoch noch, als der Wagen unmittelbar danach neben dem Schaufenster hielt und zwei Ersthelfer heraussprangen.
„Was ist passiert?“ fragte der eine von ihnen, ein Berg von einem Mann, dem ich ohne weiteres zugetraut hätte, ohne weitere Hilfe einen Ochsen von Boden empor zu wuchten.
„Ich weiß nicht. Er ist einfach zusammen gebrochen“, sagte ich und sah zu ihm empor, ohne das Pressen zu unterbrechen.
„Kennen sie ihn?“ fragte der Ersthelfer.
„Nein, ich war nur zufällig da“, sagte ich fast wahrheitsgemäß.
Der andere Helfer, schmächtiger als sein Kollege, aber mit langen, eleganten Fingern ausgestattet, die ihm auch in meinem Beruf Erfolg versprochen hätte, kniete sich wortlos neben den alten Mann. Ich nahm meine Hände von dem Brustkasten und die geschickten Finger des Ersthelfers übernahmen nun meine Aufgabe. Der zweite Sanitäter sah einen Augenblick zu. Dann aber wandte er sich entschlossen um und lief zurück zu dem Rettungswagen. Er öffnete die hintere Tür und zog eine Trage hervor.
Ich trat ein paar Schritte zurück in die Gruppe der Schaulustigen, die sich inzwischen angesammelt hatte. Der junge Mann mit dem Mobiltelefon stand neben mir und beobachtete ebenfalls die Szene. Einige Male sah er zu mir herüber. Ich streckte ihm die Hand entgegen und klopfte ihm auf die Schulter.
„Danke, dass sie geholfen haben“, sagte ich.
„Man kann doch nicht tatenlos zusehen“, sagte der Bursche.
Ich nickte. Inzwischen hatten die Ersthelfer den Mann auf der Trage verschnürt und schoben ihn nun in den hinteren Teil des Wagens. Sie sprangen in die Fahrzeugkabine und nur einen Augenblick später schaltete der Notarztwagen die Sirene ein. Als er am Ende der Fußgängerzone verschwand, löste sich die Gruppe der Zuschauer auf.
Auch ich ging fort und hatte ein gutes Gefühl. Der alte Mann befand sich nun in den richtigen Händen. Wenn die Krankenschwestern später nach seinen Papieren sahen, würden sie sie in der Brieftasche finden, die ich ihm während meiner Bemühungen zurück in die Jacke gesteckt hatte.
Das war zwar nicht das übliche Verhalten eines Diebes, doch fand ich es in dieser Situation angemessen. Immerhin besaß ich nun dafür ein neues Mobiltelefon und ich rechnete nicht damit, dass der junge Mann auf der Straße zusammenbrechen würde, wenn er den Verlust bemerkte.
Geh schwierigen Sachen aus dem Weg und mach die einfachen Dinge. Regeln waren dafür da, dass man sie befolgte.
Regeln
von Magnus Gosdek
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- Autorin/Autor: Magnus Gosdek
- Prosa von Magnus Gosdek
- Prosakategorie und Thema: Kurzgeschichten & Kurzprosa, Klassisch
Kommentare
"Gefällt mir!" - scheint mir zu gering:
Denn die Geschichte hier ist King!
LG Axel
Ich gebe Axel völlig recht!
Liebe Grüße,
Angélique
Vielen Dank, dass Euch diese kleine Geschichte gefällt. Liebe Grüße Magnus