Loverboys; 3. Teil; Fortsetzung vom 05. Dezember

Bild von Annelie Kelch
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Ich rief noch am selben Abend Fiona Friedländer an, schilderte ihr meine Situation und bat um eine Woche Urlaub. Frau Friedländer zeigte sich anfangs sehr verständnisvoll; sie habe bereits von der Gefahr, die von sogenannten Loverboys ausgehe, gehört und im „Spiegel“ darüber gelesen. Es gäbe jährlich zwischen 800 und 900 registrierte Opfer, junge, arglose, meistens einsame Mädchen, die in ihren Familien nicht genügend Halt fänden. Die Dunkelziffer bewege sich allerdings noch um einiges höher, da viele Opfer nicht einmal wüssten, dass es sich bei ihrem neuen, großzügigen, galanten und gutaussehenden Freund um einen Loverboy handele.

Ich hatte nach Luft geschnappt; Fiona Friedländer warf mir indirekt vor, dass ich Sally nicht genug behütet hätte. Ich wusste zwar, dass ich Sally aufgrund meiner Arbeit im Verlag vernachlässigt hatte, fand es aber unangebracht, dass mir auf diese Art und Weise ein Vorwurf gemacht wurde, zumal ich nicht ganz unbeteiligt daran war, dass sich der kleine Verlag trotz üppig sprießender Online-Medien nicht nur über Wasser halten konnte, sondern schwarze Zahlen schrieb. Während der letzten zehn Monate war unser 'Geschäft mit den Büchern' erstaunlicherweise enorm aufgeblüht, und ich war nicht ganz unschuldig an diesem Erfolg.

An nächsten Morgen durchsuchten Pavel und ich noch vor dem Frühstück Sallys Zimmer nach irgendeinem Hinweis, wo sie sich aufhalten könnte. Mir fiel auf, dass ihr Tagebuch fehlte. Es hatte sonst immer auf ihrem Schreibtisch neben dem Computer gelegen. Ich hatte es nie angerührt, was ich inzwischen bedauerte. Möglicherweise hätte ich Sally eine Menge Leid ersparen können, wenn ich etwas weniger diskret und neugieriger gewesen wäre.

'Vertrauen sei gut, Kontrolle besser', hatte meine Mutter früher immer gesagt, bevor sie meine Schultasche filzte. Ich fand das unmöglich und habe sie dafür gehasst. Als ich fünfzehn war, fand sie einmal eine angebrochene Schachtel Zigaretten, billiges Kraut, dass wir für wenig Geld im Zeitschriften- und Zigarettenladen erwarben und nach der Schule hinterm Wasserturm geraucht haben. - Da war die Hölle los. Ich ging danach für eine geraume Weile jedem Rauch aus dem Weg, hasste sogar harmlose Nebelschwaden.

Möglicherweise war mein Hang zur Harmonie der Grund für meine „verständnisvolle“ Erziehung. Konnte man zu verständnisvoll sein? - Eigentlich nicht, sagte mir mein Verstand; allerdings sollte man Zeit für sein Kind erübrigen, viel Zeit – und nicht alles der Oma überlassen. Meine Mutter hatte zwar eine Menge dazugelernt, was Kindererziehung betraf, aber augenscheinlich kein Vertrauensverhältnis zu ihrer Enkelin aufbauen können.

Ich weinte bittere Tränen um Sally und verfiel in zermürbende Grübeleien.

Sally hatte sich verliebt und ich hatte nichts davon mitbekommen, war mit Scheuklappen durch das Haus gelaufen, hatte nur an meinen Beruf gedacht, um das Vertrauen, das Frau Friedländer in mich gesetzt hatte, zu rechtfertigen. Ich hatte Fiona auf gar keinen Fall enttäuschen wollen. Darüber hinaus war mir der Verlag zur zweiten Heimat geworden. Ich wurde dort gebraucht und hatte darüber ganz und gar vergessen, wer mich noch dringender gebraucht hätte: meine Tochter Sally, die bis vor wenigen Wochen nicht die geringsten Schwierigkeiten gemacht hatte.
Sogar ihre Pubertät verlief ohne Probleme – ob das normal war? Nach allem, was man hörte und las? Ich erntete von Sally weder Protest noch Kritik, und ich wiederum fand nicht den geringsten Grund, sie zu kritisieren: Ihr Benehmen und ihre Leistungen in der Schule waren hervorragend. Sie war ruhig und vernünftig – schon immer gewesen, schon als kleines Mädchen. Dann plötzlich – von heute auf morgen – diese groteske Veränderung. Nicht, dass sie frech oder gar aufsässig gewesen wäre; es war etwas anderes, nicht Definierbares, das mir Sorgen bereitet hatte: Sally kam mir vor, als habe sie sich einer Gehirnwäsche unterzogen, als habe sich ihr ganzes Wesen verändert. Ja, sie kam mir mit einem Mal so albern und oberflächlich vor – ob das Verliebtheit gewesen war, etwa wie in dem albernen alten Schlager '...und der Himmel hängt voller Geigen, und die Liebe blüht in den Zweigen' etc.?

Alles wäre anders gekommen, wenn Gordon, ihr Vater, nicht so früh von uns gegangen wäre, davon war ich fest überzeugt.

Ich machte mir schreckliche Vorwürfe. Frau Friedländer hatte gegen Ende unseres Telefongesprächs die Grausamkeit besessen, mir zu erzählen, dass einige dieser Mädchen oft spurlos verschwänden. Sie hatte nach dieser brutalen Aussage eine viel sagende Pause gemacht, und ich hatte mir sofort meine Sally vorgestellt: ermordet und in einem Waldstück verscharrt.

Ich sank nach diesem Gespräch auf unser schönes altes Sofa, wühlte meinen Kopf in die Kissen und weinte hemmungslos. Pavel, der im Keller Sallys kleine Orgel reparierte, kam nach oben ins Wohnzimmer, um mich zu trösten.

„Erst bekommen sie K.-o.-Tropfen in die Cola und später müssen diese Mädchen Drogen nehmen und fremden Männern zu Willen sein“, schluchzte ich in seinen Armen. „Ich bin schuld, wenn Sally stirbt. Vielleicht möchte sie nicht mehr leben, nach allem, was dieser Kerl und seine Freunde ihr antun könnten. Womöglich schämt sie sich gar, mit ihrer Oma und mir danach Kontakt aufzunehmen.“

„Das glaube ich nicht“, sagte Pavel. „Sie würde froh sein, dass sie dieser Hölle entkommen konnte."

Pavel blieb noch ein paar Tage bei mir, stand mir in meinem unendlichen Kummer zur Seite, und ich war mehr als froh darüber. Alleine wäre ich der Situation nicht gewachsen gewesen.
Meine Mutter war zwischenzeitlich aus dem Krankenhaus entlassen worden, und ich hatte mit Vorwürfen gerechnet, die sie mir wegen Pavel machen würde, aber die beiden verstanden sich wider Erwarten prächtig, obwohl ich mich schäme, diese Vokabel zu gebrauchen - angesichts der Misere, in der Sally sich vermutlich befand.

In der letzten Nacht, die Pavel bei uns verbrachte, klingelte unten im Flur das Telefon. Ich knipste im Halbschlaf meine Nachttischlampe an und blickte auf meine Armbanduhr, die auf dem Schränkchen neben dem Bett lag: Es war halb drei. Dann wurde mir jäh bewusst, dass es sich bei dem Anruf nur um Sally handeln konnte: Entweder war sie selber am Apparat oder die Polizei hatte mir etwas Wichtiges mitzuteilen.

Fortsetzung am kommenden Dienstag, den 13. Dezmber 2016

Interne Verweise

Kommentare

09. Dez 2016

Auch diese Fortsetzung rentiert:
Wird gern gelesen - garantiert!
(Nur Krause kommt leicht durcheinander:
"Wo is n da nu der LEANDER?!")

LG Axel

09. Dez 2016

Leander, liebe Bertha, tummelt sich in Weidenbach 'rum,
würgt Santo, wird gebissen von Nora - ach nein, andersrum:
würgt Nora, wird gebissen von Santo - darum:
lies etwas aufmerksamer bitte -
Wie, der Text sei zu anspruchsvoll - ach, du meine Güte:
dann hol' dir vom Kiosk doch die Bild oder die Brigitte!

LG Annelie