Brunftschrei im Bahnstein’schen Power-Kabinett - Page 4

Bild von Monika Laakes
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zu.”
Mit großer Genugtuung betrachtete der Gastgeber die Runde sinnenfroher und aktiver Genießer. Brohl verdrehte bei jedem Bissen seine Augen. Prof. Neill schmatzte leicht. Pfannmeister roch an seinem Fleischstück, bevor er es in den Mund schob.
“Das ist mit Abstand das beste Ragout, das ich jemals gegessen habe”, sagte Brohl und schob hastig mehrere Fleischstücke nach und kaute mit Elan und dicken Backen.
“Verschluck dich nicht”, bat Bahnstein mit besorgtem Blick auf Brohl. “Es ist noch reichlich davon in der Küche.”
“In der Küche? Äh. Wo steckt Hildchen eigentlich?” wunderte sich Wasserstorm. Indessen angelte Bahnstein in der Terrine mit einer Kelle nach Fleisch. Ein kurzes Zittern durchzog seinen Arm. Die Kelle rasselte gegen das Porzellan. Dann spornte er seine Freunde erneut an:
“Nun schlagt euch die Bäuche voll. Später werdet ihr merken, welche Wirkung das auf euch hat.”
Freunde fürs Leben können sich uneingeschränkt aufeinander verlassen. Diese Gesetzmäßigkeit hatten die Herren verinnerlicht. Niemand stellte mehr unangemessene Fragen. Es war ein unbeschwerter, fröhlicher Abend. Bahnstein ließ Burgunder in die handgeschliffenen Gläser gluckern. Das intensive Rot schenkte den Augen noch zusätzliche Lebenskraft. Und wieder gewann das Leben an Schönheit und Tiefe.
Doch plötzlich bat Wasserstorm: “Nun hol endlich Hildchen. Hilde, die Wilde.”
Er zwinkerte lüstern mit dem linken Auge. Bahnstein begann mit dem rechten Auge zu zucken. Das Zucken ließ sich durch nichts beeinflussen. Es hatte sich verselbständigt und nahm die restliche Nacht in Besitz.
Richtige Freundschaft hat eine hohe Qualität, um die sich die Herren in diesem Kreise ernsthaft bemühten. Es wurden keine Fragen mehr gestellt. Keine provozierenden, zerstörerischen Fragen. Und das Rätsel um Bahnsteins Augenzucken blieb ungelöst.
Auch Hilde zeigte sich an diesem Abend an der Männerwelt uninteressiert. Die Herren aßen das zarte Fleisch mit Vergnügen in stillem Gedenken an die zurückhaltende Gastgeberin und deren Kochkünste. Sie hörten mit Aufmerksamkeit Bahnsteins Versprechen, dieses Fleisch würde Kraft und Ausdauer, vor allem Ausdauer spenden.

Bald darauf reiste Bahnstein für einige Wochen zum Jagen in sein geliebtes Namibia. Er versprach, für neue Überraschungen zu sorgen. Er hatte den Herren die Zubereitung des durch stundenlanges Einweichen in Marinade überaus zarte Fleisch des zuletzt verspeisten Ragouts nicht verraten. Auch die Art des Fleisches blieb geheim.
“Hilde freut sich wie ein Kind auf unsere Reise”, hatte er seinen Freunden vor der Abreise noch telefonisch mitgeteilt. “Ich bringe euch wieder etwas Besonderes mit”, versprach er.

Als sich die Freunde wieder einmal trafen, tischte Bahnstein zahlreiche Früchte des Südens auf.
“Aphrodisiakum”, sagte er mit zwinkerndem Lächeln. Die Frage nach Hilde konnte er rasch beantworten.
“Hilde ist in Namibia. In ihrem geliebten Namibia. Ich habe ihr dort eine Farm gekauft. Sie will vorerst dort bleiben.”
Die Freunde gratulierten und versprachen, in naher Zukunft seine Farm zu besuchen.
Und die Zeit, die Zeit, sie rannte was das Zeug hielt, sie rannte unbarmherzig in die einzig mögliche, doch ach so beängstigende Richtung.
Wieder Weihnachten. Und Bahnstein blieb daheim. Weihnachten ohne Hilde. Das winterliche Treffen in seinem Aufbau-Kabinett galt, wie von Anbeginn, als Höhepunkt der Herrenriege.
“Sag uns nur nicht, dass Hilde ihren Christbaum in Namibia aufstellt”, sagte Wasserstorm.
“Hilde? In Namibia?” murmelte Bahnstein abwesend. Er fuhr sich fahrig über die Stirn, als wolle er Gespenster vertreiben. Dann bestätigend: “Ja. Hilde ist in Namibia.”
Er spreizte den kleinen Finger ab und zupfte sich am linken Ohr. Dabei kicherte er mit kieksendem Gurgeln in Richtung Wasserstorm. Alles an Bahnstein, jede Geste und Artikulation, erinnerte an Hilde. Ihr gespreizter, kleiner Finger, ihr geziertes Lachen.
“Wie kann sie dir das antun?” sagte Prof. Neill und schaute prüfend auf Bahnsteins kleinen Finger. Niemals zuvor hatte sich H.-G. B. in Mimik und Gestik seiner Frau Hilde dermaßen angeglichen. Man könnte annehmen, er habe sie verinnerlicht.
“Nun, wieso ist sie nicht hier?” hakte Brohl nach.
“Wie kann sie uns das antun?” ergänzte Wasserstorm mit einem breiten Grinsen.
“Nie sollst du mich befragen”, sang Bahnstein mit schriller Kopfstimme, die wiederum sehr weiblich klang, sehr nach dem Organ seiner Frau Hilde.
Dieser Abend vollzog sich im wärmenden Glanz von Hildes Gegenwart. Bahnstein verkörperte Hilde in beneidenswerter Vollendung.
Als sich der Uhrzeiger der antiken Wanduhr, die zwischen jeweils zwei imposanten Hirschgeweihen an der rechten Längswand des Kabinetts befand, auf die Drei rückte, da sorgte Bahnstein für einige Verwirrung. Für einen kurzen Moment entschuldigte er sich und verschwand in seinem Schlafzimmer.
Dann kam Hilde in den Raum. Ihr unverwechselbarer Duft nach Zimt, Moschus und Sandelholz schmeichelte den herrlichen Riechorganen. Es tat so gut, mit Beginn des erwachenden Tages eine stimulierende Hormondusche verabreicht zu bekommen.
“Hildchen. So wie wir Hildchen kennen und lieben!” rief Wasserstorm begeistert.
“Es gibt doch noch erotische Frauen!” ergänzte Brohl lautstark und zog tief Luft durch seine breiten Nasenlöcher.
“Im Jahr 2000 Erotik pur. Ohne Gruppensex und nacktes Fleisch”, fügte Prof. Neill hinzu.
Währenddessen umschmeichelte das Weibliche nur durch Duft, Gestik, Mimik, Stimme und Anwesenheit. Pure Anwesenheit all jener subtilen Qualitäten.
“Hildchen, unser Hildchen”, flüsterte Dorn ergriffen, und Pfannmeister nickte bejahend mit dem Kopf.
Die Frische des Morgens verdrängte die Benebelung der weingeschwängerten Nacht. Hilde zog sich den Pony weit ins Gesicht. Dabei verrückte die blonde Perücke und H.-G. Bahnsteins Ohr wurde sichtbar. Prof. Neill rieb sich die Augen. Er zwinkerte in Richtung Hilde und schüttelte seinen Kopf.
“Hilde? Hans-Georg? Hilde? Was um alles in der Welt geht hier vor?”
Des Professors Stimme zitterte. Noch einmal tänzelte die Illusion des Weiblichen durchs Kabinett. Verströmte verschwenderisch ihren Duft.

“Ach Hildchen”, murmelte Wasserstorm. Dann erbost: “Lass die üblen Scherze, Hans-Georg.”
H.-G. Bahnstein zog die Perücke über sein Ohr. Zupfte das knöchellange, weitgeschnittene rote Samtkleid zurecht. Dann schritt er mehrmals mit angedeutetem Hüftschwung durch den Raum. Seine Füße quollen aus roten Lacksandaletten und standen an den Fersen einige Zentimeter über. Er hielt sich bravourös aufrecht, obwohl man enorme Fußbeschwerden vermuten konnte. Nochmals flötete er im Originaltonfall Hildes:
“Aber, aber, meine Herren, warum regt ihr euch auf?”
“Warum imitierst du Hilde auf so schamlose Weise? Leidest du etwa unter ihrer Abwesenheit?” fragte Prof. Neill.
“Nicht nötig. Ich habe Hilde total verinnerlicht. Mit Haut und Haaren”, erwiderte H.-G. Bahnstein mit tief-gründigem Lächeln.
“Verinnerlicht?” staunte Brohl. “Wie verinnerlicht?”
“Wie ich das sage”, erwiderte Bahnstein.
Seine Ähnlichkeit mit Hilde war überwältigend. Der mit kirschrotem Lippenstift nachgezogene, leicht über¬schminkte Mund, darunter das Doppelkinn, die mit schwarzem Kajal umrahmten, engstehenden kleinen Augen, das war ein Abbild Hildes, beinahe ein Kunstwerk.
“Heutzutage heiratet man Gleiches”, stellte Prof. Neill pragmatisch fest.
“Gleiches zieht Gleiches an”, bestätigte Brohl.
“Paperlapapp, die Anpassung findet durch eine langjährige Ehe statt”, so Wasserstorm. “Kuckt euch alte Eheleute einmal an. Sehen sich total ähnlich. So wie Herr und Hund. Nur durch Anpassung, behaupte ich.”
“Klar doch. Durch Konditionierung. Wie Herr und Hund”, lachte Pfannmeister und dachte an seinen Vorstehhund und seine Frau.
“Wie auch immer, Hans-Georg und Hilde sind heute wie eineiige Zwillinge”, knurrte Dorn in sich hinein.
“Er sagte verinnerlicht. Wie meint er das?” hakte Brohl nach, zog seine Augenbrauen hoch und blickte in die Runde. “Wie hast du Hilde verinnerlicht?” bohrte er weiter und blickte streng in Bahnsteins Augen. Brohl war neben Prof. Neill ein ausgezeichneter Analytiker.
“Wortwörtlich”, flüsterte Bahnstein. “Meine Freunde, Hildchens Qualitäten sind überwältigend”, fügte er noch hinzu. “Habt ihr das noch nicht gespürt?”
Prof. Neills Blick verfinsterte sich. Seine Frage klang scharf.
“Gespürt? Sagtest du gespürt?”
“Gespürt”, flüsterte Bahnstein eine Nuance leiser als zuvor.
Es war plötzlich still Dieser Zustand hatte etwas Beklemmendes. Dann brach Prof. Neill in ein kreischendes Gelächter aus. Niemals zuvor hatte er beim Lachen solch Tonfrequenz erreicht. Tränen quollen aus seinen Augen. Er hatte einen Ring liebenswerter Fältchen um die Augen. Er zog ein Stofftaschentuch aus seiner Gesäßtasche und schnäuzte lautstark, rieb seine Augen trocken. Kreischte nochmals. Das Gelächter wirkte ansteckend. Ein Gackern, Brüllen, Schnauben und Bellen zerbrach die nächtliche Stille.
“Du willst uns doch nicht sagen!” brüllte Brohl mit erstickter Stimme. “Du willst doch nicht!”
Er rang merklich nach Luft und hielt sich den Magen. Dann prustete er wieder hemmungslos ein gurgelndes Bellen in den Raum.
“Doch!” schrie Bahnstein sichtlich erbost. “Doch!”
Sein Nacken war rot angelaufen bis in die Spitzen der Ohren. Er hatte seine Perücke abgezogen und stützte sich auf den Rücken des Gepards. Der gab ein wenig unter dem Gewicht nach.
“Doch!” rief er nochmals und zeigte auf Neill, Dorn, Wasserstorm, Brohl, Pfannmeister und auf sich.
“Du, du, du und du und du und ich, wir haben Hildes zartestes Stück genossen.”
Brohl stürmte los. Erneut standen die Herren vor der Toilettentüre Schlange. Sie boten all ihre Beherrschung auf, um nicht spontan und allzu früh ihren Mageninhalt auf dem Seidenteppich zu entleeren. Nach einer Weile hatten sie sich erleichtert und ihre alte Fassung wieder erreicht.
“Bitte”, wandte sich Prof. Neill an H.-G. Bahnstein. “Bitte probe mit uns noch einmal den Brunftschrei des Hirsches.”
Während sie mit dem Hausherrn in den schalldichten Keller gingen, ins sogenannte Bahnstein’sche Power-Kabinett, fühlten sie ein inniges Band der Brüderschaft. Dort formten sie ihre Hände zu Trichtern, um die Laute ihrer Kehlen zu verstärken. H.-G. Bahnstein wusste nun, dass er seinen Schülern in dieser Nacht den perfekten Brunftschrei entlocken konnte. Da gab es für ihn nichts mehr zu vermitteln. Er hatte als Lehrmeister ausgezeichnete Arbeit geleistet und konnte seine Eleven entlassen. Verstohlen wischte er sich Tränen der Rührung mit dem Handrücken fort.
“Absolut. Das war absolut”, flüsterte er. “Ihr habe die Reifeprüfung mit Auszeichnung bestanden”, fügte er noch hinzu.
Die sechs Herren und Freunde wiederholten noch zweimal ihren Schrei. Danach waren sie erschöpft, zufrieden und glücklich wie die Kinder.
“Flow. Das ist Flow”, murmelte Prof. Neill.
“Das ist, als hätte ich einen Zwölfender erlegt”, bestätigte Pfannmeister.
“Flintenorgasmus”, frotzelte Wasserstorm und streichelte mit liebevollem Blick die Männerrunde. Nur in einem solchen Kreis gibt es vollkommene Harmonie und Flow. Die wundervolle Droge Flow, dachte er bei sich.
“Mein Geheimnis. Wollt ihr mein Geheimnis wissen?” fragte H.-G. Bahnstein.
Ohlala. Er hat ein Geheimnis. Schaut mal, wie er strahlt.”
Prof. Neill zwinkerte ihm belustigt zu.
“Es ist wegen Hildchen”, so H.-G. Bahnstein.
“Hoho. Hat das etwas mit Flow zu tun?” hakte Brohl nach.
“Ja. Hildchen und Flow.”
“Nun red schon. Hast du sie mit deiner Kraft übertroffen?” drängte Wasserstorm.
“Es war das Beste, was ich ihr jemals geben konnte.”
“Nun erzähl”, stocherte Wasserstorm.
“Lass dich nicht nötigen”, pflichtete Brohl bei.
“Hier unten. Es war hier unten.”
Bahnstein wirkte wie in Trance als er fortfuhr.
“Es war ihr letzter Schrei. Es war mein größter Flintenorgasmus. Sie war nun mal eben etwas Besonderes.”
Auf diese Offenbarung hatten die Freunde seit Entleeren ihres Mageninhalts gewartet. Sie wussten nun nicht nur dass, sondern auch warum und wie Hildchen die Welt verlassen musste, um in einer lauen Mittsommernacht als köstliches Ragout am Zellenaufbau jedes anwesenden Essers mitzuwirken. Und sie wussten, dass H.-G. Bahnsteins erster Flintenorgasmus beim Abschuss des Geparden nur ein Auftakt zu noch Größerem war. Und dass die Sehnsucht nach noch größerem Lustgewinn kaum zu stillen war und verbunden mit der unermüdlichen Suche nach neuen Möglichkeiten.
Prof. Neill war ein großartiger Denker und Analytiker.
“Das war’s dann”, stellte er fest. “Mehr kann nicht kommen. Hänschen hatte sein totales Flow-Erlebnis.”
Brohl hatte einen tiefen und alles verstehenden Blickkontakt mit Prof. Neill. Er tauchte förmlich ein in dessen Augenblick.
“Wir werden es nun auch dir ein letztes Mal besorgen”, sagte Brohl, der nach Prof. Neill den schärfsten Verstand besaß.
Der Keller hatte schalldichte Mauern. Die frühe Stille des Morgens wurde kurz durch ein gedämpftes ”Plöpp” unterbrochen, so leise, als würde eine Sektflasche entkorkt. Das war für fünf hilfreiche Freunde eine totale Flintenekstase. Der sechste starrte zuerst gebrochenen Auges gegen die Kellerdecke bevor er mit Hilfe Prof. Neills ein für allemal die Augen schloss.
Dann hörte man vereinzelt Wagentüren zuschlagen und Motorgeräusche sich entfernender Autos.
Es war der Beginn eines neuen, hoffnungsvollen Jahres.

Veröffentlicht / Quelle: 
Publ. 2001 in Potenz-Reliquien - Satiren

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Interne Verweise

Kommentare

13. Feb 2016

Dieser Text scheint echter Treffer!
(Nicht nur der Hase liegt im Pfeffer...)

LG Axel

14. Feb 2016

Der Kommentar ist so herrlich zweideutig. Dank an Axel

13. Feb 2016

Hilde nährte die Schützengilde... wie kommt man auf so was ? Monika Du machst mir Angst ;-)

LG Micha

14. Feb 2016

Huch, lieber Micha, das war nicht meine Absicht. Allenfalls wollte ich Schmunzeln rauskitzeln. Hintergrund des 'Schwarzen Humors', des Horrors, war die Existenz eben dieses Gepards, den ich ausgestopft vor Jahren bestaunen durfte. Zudem las ich gestern eine kleine Meldung in der WAZ über den Sieger des Brunftschreis. Die Szene gibt es wirklich. Und so stellte ich die Satire bei LiteratPro ein. Zudem ist nicht jeder Krimi Schreiber ein Mörder. Obwohl ich mir keine mehr ansehe. Oje, mit dieser Resonanz hab ich nicht gerechnet. Sorry.
Alles ist gut und LG Monika

14. Feb 2016

Das wollte ich damit auch nicht gesagt haben liebe Monika. Es war ein rein konversationelles Kommentar eines männlichen Individuums ;-), der Dein Talent hervorheben sollte, denn das hast Du.

LG Micha

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