Gefährlicher Sommer (Teil 30; Text 2)

Bild von Annelie Kelch
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Was sind wir Menschen doch? ein Wohnhaus grimmer Schmerzen,
ein Ball des falschen Glücks, ein Irrlicht dieser Zeit,
ein Schauplatz herber Angst und Widerwärtigkeit,
ein bald verschmelzter Schnee und abgebrannte Kerzen.

Dies Leben fleucht davon wie ein Geschwätz und Scherzen.
Die vor uns abgelegt des schwachen Leibes Kleid
und in das Totenbuch der großen Sterblichkeit
längst eingeschrieben sind, sind uns aus Sinn und Herzen.

Lass, wenn der müde Leib entschläft, die Seele wachen.
Und wenn der letzte Tag wird mit mir Abend machen,
so reiß mich aus dem Tal der Finsternis – zu dir!
Andreas Gryphius; (1616 – 1664) „Von der Eitelkeit der Welt“

Trauer, Entsetzen und eine weitere Ferienwoche

Kaum dass Hannes und ich unsere Füße auf den Asphalt der Dorfstraße gesetzt hatten, jagte uns Tom entgegen. Der liebe, etwas tollpatschige Hund würdigte Hannes keines Blickes, als habe er mit Luchs eine Vereinbarung in dieser Hinsicht getroffen. Auch für Luchs war Hannes nicht mehr vorhanden – nachdem der aufmüpfige Sohn des Gutsinspektors den Polizeihunden Beifall gezollt hatte, als handele es sich bei diesen Tieren um erfolgreiche Größen etwa des Sportbetriebs, und sich abfällig über den gutmütigen, altgedienten Hofhund ausgelassen hatte.

Man meint immer, Tiere bekämen solche Unflätigkeiten nicht mit; aber bei dieser Theorie handelt es sich offenbar um einen der größten Irrtümer seit dem Bau der Arche Noah, liebe Christine. Luchs hat längst gecheckt, woher der Wind weht, und Hannes' Beleidigungen sind ihm buchstäblich unters Fell gekrochen. Seit jenem Tag, als Herr Fuchs mit einer Hundestaffel auf Lachau angerückt war, ließ der Gute den Kopf hängen.
Hannes, dieser Stiesel, hat vermutlich nicht eine einzige Zeile von Konrad Lorenz, DEM Verhaltensforscher, gelesen. Der kommt nämlich in seinen Abhandlungen zu entscheidenden Ergebnissen der Tierpsychologie und zieht Parallelen zum menschlichen Verhalten.

Jedenfalls sprang Tom an mir hoch, als seien wir längst beste Freunde, und ich freute mich darüber.

„Tom ist ein durch und durch charakterloser Hund, Katja“, sagte Hannes. „Er weiß ganz genau, dass er das Grundstück nicht verlassen darf. Aber das ist ihm schietegal.“

„Was soll der arme Hund auch den ganzen Tag anfangen; ihr beschäftigt euch ja kaum mit ihm.“

„Längst noch kein Grund, beim Schlachter eine Pyramide aus Dosen mit Ochsenschwanzsuppe umzustoßen, wie erst gestern wieder geschehen. Man blamiert sich nur mit diesem Kerl. Von wegen zur Rettung von Menschen geeignet, Lawinenhund ... dass ich nicht lache!" Hannes ließ ein Gemecker vom Stapel, als habe er sich in einen Ziegenbock verwandelt.

Tom stieß ein unmissverständliches Knurren aus.

„Halt die Klappe, blöder Köter“, schimpfte Hannes. „Du weißt ganz genau, was du in letzter Zeit alles verbrochen hast. Und jetzt führ uns nach Hause zu Tante Selma, wie es sich für einen Hund deiner Rasse gehört.“

Der Rest der Clique saß mit Axel Kröger und Tante Selma am Frühstückstisch.

„Gut, dass ihr euch endlich blicken lasst“, rief Tante Selma uns entgegen, nachdem wir den kleinen Flur betreten hatten. Tom wollte sich an mir vorbeidrängeln; aber Hannes' leidgeprüfte Tante schrie: „Raus, Tom. Ich möchte dich heute nicht sehen – nach allem, was du mir gestern beim Schlachter angetan hast!“

Kröger griente amüsiert, während Tom den Schwanz einzog, mit dem er vermutlich im nächsten Augenblick freudig wedeln wollte, und sich beleidigt in den Garten verzog.

„Katja, ich habe soeben mit deiner Großmutter telefoniert“, sagte Tante Selma. „Wir sind uns einig, dass du mit deiner Mutter noch eine Woche auf Lachau bleiben solltest – nach all den schrecklichen Dingen, die du hier erlebt hast – von denen wir Erwachsene bis vor Kurzem nicht die leiseste Ahnung hatten. Weshalb habt ihr euch uns nicht anvertraut?!“

„Ihr hättet uns sofort gestoppt, Tante Selma, und der Mord an Knut wäre nie aufgeklärt worden – aufgrund des falschen Alibis, dass dieser feine Heribert Wegner Helge fälschlicherweise gegeben hat“, fauchte Hannes empört.

„Nun gut. Katja, du kannst hier bei Selma wohnen oder weiterhin im Gutshaus. Das ist allein deine Entscheidung.“ Kröger stopfte ein übel riechendes Kraut in seine Pfeife und steckte es in Brand.

Du glaubst gar nicht, wie froh ich war, liebe Christine, dass ich die lange Fahrt nicht im Auto zurücklegen musste – ganz alleine mit Kröger. Mir wäre auch unter Garantie wieder speiübel geworden.

„Das ist nicht gegen dich gerichtet, Tante Selma", kam es etwas zögernd über meine Lippen. „Aber ich ziehe es vor, im Gutshaus zu übernachten und auch die Mahlzeiten bei Oma einzunehmen; anderenfalls bekomme ich ja doch nur Ärger. Eine andere Entscheidung würde mir vermutlich irgendwann das Genick brechen. Oma versteht da keinen Spaß.“

Kröger und Tante Selma lachten; aber Kora und Konny sahen mich derart erschrocken an, dass ich meine Worte auf der Stelle bereute. Die beiden kannten Oma nicht wirklich. Sie kann nämlich ausgesprochen liebenswürdig und hilfsbereit sein – sofern sie gute Laune hat, was in letzter Zeit leider höchst selten der Fall war.

Das Telefon läutete. Tante Selma lief in den Flur und nahm den Hörer ab. „Nein!“, rief sie betroffen. „Das darf nicht wahr sein! O mein Gott!“

„Was ist passiert, Selma?“, fragte Kröger. Seine Augen flackerten wie ein Irrlicht. „Du machst den Eindruck, als würdest du jeden Moment in Ohnmacht fallen wollen.“

„Von Wollen kann keine Rede sein, Axel“, stöhnte Tante Selma. „Stellt euch vor: Helge ist aus dem Knast abgehauen. Mit zwei Typen, die noch um einiges gefährlicher sein sollen als er. Der Plan war vermutlich schon Monate vorher gefasst und ausgeklügelt worden. Jedenfalls haben die Sträflinge sich während einer Wäscheauslieferung im Wagen versteckt gehalten und sind später geflohen. Ein ehemaliger Häftling der Strafanstalt sei dort seit einigen Wochen beschäftigt und habe Fluchthilfe geleistet.“

„Dann hat er dort ja überraschend schnell ,gute' Freunde gefunden“, stellte Kröger ironisch fest. „Jetzt geht alles wieder von vorne los. Und wir müssen doppelt und dreifach auf der Hut sein.“

„Ich halte das nicht mehr länger aus.“ – Hannes seufzte tief. „Dieser Typ hat uns die ganzen Ferien versaut und jetzt auch noch das!“

„Keine Panik, Hannes. Unser Dorf wird ab sofort bewacht, rund um die Uhr“, sagte Kröger. „Unauffällig, das verspreche ich euch. Und sofern die Polizei nicht dafür sorgt, dass wir vor diesen Verbrechern sicher sind, werde ich Männer aus dem Dorf anheuern. Möglicherweise wird Helge auch kurzfristig geschnappt. Die Ausbrecher sind unter Garantie bereits zur Fahndung ausgeschrieben. Durch den Wald fahrt ihr mir aber nicht mehr allein, verstanden?“ Er sah uns der Reihe nach streng an, stand auf und verließ das Haus.

„Na, prima“, motzte Hannes. „Baden fällt nun auch noch aus.“

„Wir könnten mit den Rädern nach Lübeck ins Schwimmbad fahren“, schlug Kora vor.

„Dann lasst uns aufbrechen“, mischte sich Konny ins Gespräch. „Ich muss unbedingt ins Wasser – 'ne Wagenladung Frust loswerden.“

„Na, Katja?“, fragte Oma, als ich meine Badesachen aus der Kammer geholt hatte und mich Richtung Lübeck „abmelden“ wollte. – „Wo wirst du übernachten, bei Tante Selma oder hier auf dem Gut?“

„Hier“, gab ich unwillig zur Antwort. „Damit du mich unter deiner Furchtel hast.“

Oma schnappte nach Luft, während Mutti und Opa grienten, als habe Pinocchio sie an den Fußsohlen gekitzelt.

Es wurde ein richtig schöner Nachmittag, obwohl Kora sich sogar noch im Schwimmbad immer wieder ängstlich umgeschaut hat, als leide sie unter Verfolgungswahn.

Wir waren zum Abendessen wieder „zu Hause“ und trafen uns später alle in Omas und Opas Laube. Die Wicken am Zaun vor ihrem kleinen Garten leuchteten in allen Farben und die Wipfel der alten Bäume des Gutsparks nickten zu uns herüber, als wollten sie sagen: So ist es recht, genießt diesen herrlichen Abend; er kommt niemals wieder.
Kröger und Leni gesellten sich wenig später zu uns, nachdem der Pferdestall ausgemistet war und Leni den Abwasch bewältigt hatte. Uns war an jenem Tag nicht nach Helfen zumute, obwohl Hannes' Vater immer noch versuchte, die Arbeit auf dem Gut ohne fremde Hilfe zu bewältigen. Ich hatte meine berechtigten Zweifel, dass ihm dies gelingen würde; aber der Herr Gutsverwalter ließ sich den enormen Stress nicht anmerken – noch nicht.

„Schade, Katja“, begann er ein Gespräch mit mir, nachdem Kora und Konny auf dem Rasen neben dem Haus ein Federballmatch begonnen hatten. „Ich hatte mich schon so sehr auf eine gemeinsame Fahrt mit dir gefreut. Du hättest mit mir auch nach Niebüll fahren können. Ich hätte dich dann auf dem Heimweg nach Hause gebracht.“

„Mensch, Papa“, mischte sich Hannes ein. „Katja ist froh, dass sie mit ihrer Mutter im Zug nach Hause reisen kann. Du weißt doch, dass sie sich nicht gerne im Auto kutschieren lässt.“

„Gegen Reiseübelkeit gibt es Tabletten – auch auf Naturbasis, Hannes“, sagte Kröger. „Zufällig besitze ich welche.“

„Zufällig ...“, griente Hannes.

„Ich wollte noch kurz in den Park, um mir anzuschauen, an welcher Stelle sich unser künftiger Hofladen am günstigsten ausnehmen würde, habe gedacht, neben den Stachelbeersträuchern linkerhand. Dort dürfen sich unsere zukünftigen Kunden dann nebenbei sattessen. Wir können die Früchte eh nicht alle verwerten. – Kommt ihr mit?“

„Nö“, sagte Hannes. „Geht ruhig ohne mich. Im Fernsehen kommt gleich eine neue Folge meiner Lieblingsserie ,Ein Fall für Batman'. Darauf habe ich die ganze Woche gewartet, Papa.“

„Äh, ich wollte auch … nach oben, habe ein neues Buch von Françoise Sagan angefangen ,Lieben Sie Brahms', muss ich – unbedingt weiterlesen“, stotterte ich, sprang auf und lief Hannes hinterher, der just einen Federball aufhob, den Kora versehentlich in Richtung Laube geschmettert hatte. Im Saal stand eines der Fenster sperrangelweit offen.

„Passt bitte auf, dass ihr den Ball nicht durchs Fenster ballert. Oma, Mutti oder Opa könnten durch den Saal spazieren und ihn an den Kopf bekommen. Hinter euren Schlägen steckt eine ziemliche Wucht", machte ich Kora und Konny klar.
Eine Sekunde später fiel ein Schuss, und Kröger, der langsam hinter mir hergeschlendert und im Begriff war, einen weiteren jener Federbälle aufzusammeln, die Kora nicht pariert hatte, stürzte zu Boden. Mir wurde augenblicklich hundeelend im Magen, so elend und flau, wie schon lange nicht mehr, wenn ich von der perfiden Hetzjagd vor wenigen Tagen im Wald einmal absah.

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Kommentare

14. Mär 2018

Spannend geht's weiter! Dein Text
Stets stark in Richtung Leser wächst ...

LG Axel

14. Mär 2018

Dank, Axel, Dir, für Deinen Kommentar -
der Helge konnte es im Knast nicht länger wohl ertragen.
Es blieb ihm deshalb keine andere Wahl, als schnell die Flucht zu wagen.
Zum Glück haben die Gangster keine Geiseln mitgenommen.
Dennoch sind alle Menschen rund ums Dorf jetzt sehr beklommen.

LG Annelie