Wege der Befreiung - Page 2

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seinen gelben, mordlustigen Augen direkt zu Mag hinüber. Seine kurzen Borsten sträubten sich. Mag erstarrte zu Stein. Ihre Angst lähmte sie. „Verfluchte Scheiße, worauf wartest du Mädchen. Renn!“, schoss es ihr durch den Kopf. Zu spät. Der Keiler raste wildentschlossen auf Mag zu, während die Erde bebte. Noch einmal schrie es in ihrem Kopf: „ Spring du hohle Nuss, spring.“ Maggie verstand und hechtete im aller letzten Moment zur Seite. Sie flog förmlich, während sie den Windzug des Ebers auf ihrer Haut spürte. Maggie landete hart und schrie auf. Hastig sah sie sich um. Steine und Äste. Das Wildschwein zögerte nicht und rannte auf direktem Wege zu Maggie. Wild sprang Maggie auf die Beine und schleuderte mit aller Kraft einen faustgroßen Stein auf das Ungetüm. Sie traf. Benommen hielt das Tier inne und quiekte. Zwar wich es ein kleines Stück zurück, aber aufgeben kam auch für ihn nicht in Frage. Es machte sich schon wieder bereit zum nächsten Ansturm, doch nur um mit weit aufgerissenen Augen zu sehen, wie dieses dürre Wesen, bewaffnet mit einem Ast, dicker als der Arm der dranhing, auf die Bestie zu rannte und einen Kampfschrei losließ. Maggie legte all ihre Wut in die Schläge. Die Angst wich und machte Platz für Stolz. Für Mut. Perplex, ohne das es recht wusste wie ihm geschah, floh das Wildschwein. „Hau nur ab du fettes Schwein!“, schrie Maggie hinterher. Erschöpft und schwer atmend glitt Maggie mit dem Ast zu Boden. Rücklings liegend, die Baumkronen beobachtend, fragte sich die Siegerin, was das heute für ein Tag war. Allmählich bemerkte sie, wie ein süßer Schmerz ihr Bein, rauf zum Oberschenkel kroch. „Hoffentlich kann ich weitergehen.“ , fluchte Maggie. Sie hatte zum Teufel nochmal gegen ein Ungeheuer gewonnen. Träumte sie immer davon, eine Prinzessin zu sein, fühlte sie sich jetzt als Held.
„Hey du da.“, rief eine Stimme von irgendwo. Nichts machte Maggie noch Angst. Während Maggie sich langsam aufrichtete, sah sie eine Gestalt ganz in der Nähe, versteckt zwischen zwei Bäumen. „Das war ziemlich knapp, ne?“ , sagte der Mann teilnahmslos. Vor ihr stand ein mittelgroßer Mann. Er besaß weder ein großes Kreuz, noch war er schmal. Sein Haar ging wellig bis fast zur Schulter hin. Maggie konnte nicht recht sagen, ob seine Mähne blond oder braun war. Vielleicht lag das auch am Licht im Wald. In der einen Hand hielt er einen Bogen, in der anderen einen am Seil befestigten Igel. Zudem hatte er einen Köcher mit Pfeilen auf seinem Rücken geschnallt. Seine Kleidung passte nicht recht zu ihm. Es war nicht das was er anhatte, sondern welche Farbe diese besaß. Seine Weste, sein Pullover, seine Hose und auch seine Stiefel waren makellos weiß. Vorwurfsvoll sprach Maggie: „ Ja, weil du mir gegen den Eber nicht geholfen hast.“ „Das war kein Eber. Es war 'ne Sau. Im Frühling greifen die Weibchen alles an, was ihren Frischlingen zu nahe kommt.“ Mag schaute zu Boden. Wehmut kam in ihr auf. „Na und? Du hättest mir helfen sollen. Ich hatte furchtbare Angst.“ Der Jäger lächelte kaum merklich, als ob er nie etwas dümmeres gehört hatte. Paradoxerweise machte ihn das sympathisch. „Ging nicht. So kommt sie nicht wieder. Zudem hast du es auch prima alleine geschafft.“ Mag zögerte. „Wo bin ich hier?“ „Hoffentlich bist du bei dir.“ „Lebst du hier?“, bohrte Maggie verständnislos nach. „Naja. In gewisser weise ja.“
Mit einem tiefen Atemzug ging sie in sich. Nach einer Weile verstand sie. Glaubte sie zumindest. „Kannst du mir wenigstens helfen hier raus zu kommen?“, fragte sie hoffnungslos. Sie ahnte die Antwort. „Nein. Ich sag dir nur in welcher Richtung du zurück kommst und in welcher es weiter geht.“ Mag dachte an das was zurück lag. An all den Lärm, den Schmutz, die Hitze. An ihr Unbehagen in der Stadt. „Na immerhin.“ , sagte Maggie und ließ sich den Weg vorwärts zeigen.

Erleichterung, denn der Wald nahm für Maggie endlich ein Ende. Grell und warm grüßte sie die Sonne, ihr alter bekannter. Sanft prickelte es auf Maggie's Haut. Herrlich. Ergriffen fasste sie sich an ihr Herz. Vor ihr tat sich ein ellenlanger Weg auf, links und rechts sah sie grün, so weit das Auge reichte. Das erstaunlichste jedoch lag direkt vor ihr. Ein imposanter, ja majestätischer Berg ragte gewaltig in die Höhe. So hoch, dass Wolken den Gipfel verdeckten. Einzig die Sonne, die ihren Zenit erreicht hatte, strahlte weit darüber hinaus. Mag wollte da hoch. Sie musste hoch. Wie Nektar Bienen anzog, so verführerisch lockte der Berg Mag zu sich. Fernweh umklammerte Mag. Hadern. „Schaffe ich das überhaupt? Jahre vergehen bis ich da oben bin.“ „Vielleicht“ ,wisperte der Wind. „Ja.“ ,bekräftigte Maggie. Das war ihr Weg. Zuversichtlich hob sie ihre schmerzenden Füße. Links von ihr war Wiese. Rechts von ihr war Wiese. Vor ihr der blöde Berg, der einfach nicht näher kam. „Wasser. Durst.“ Diese Gedanken trieben sie im Moment vorwärts. Kurzerhand stimmte Mag zur Ablenkung ein Lied an:“

Draußen such ich nach Halt​

Draußen ist es geschmückt.​

Drinnen ist es sehr kalt.​

Drinnen find ich kein Glück​

Die Tage sind schwer​

Die Tage sind schwer​

Draußen wurd ich gebor'n​

Draußen such ich nach Schutz​

Drinnen bin ich verlor'n​

Drinnen find ich nur Schmutz​

Die Tage sind schwer​

Die Tage sind schwer.​

Draußen kann mich nichts schockier'n​

Draußen kann ich nicht's schmieden​

Drinnen sollte ich's probier'n​

Drinnen find ich vielleicht frieden​

Die Tage“​


Da! Ein plätschern war zu hören. „Hurra“ ,jauchzte Mag, „ein Bächlein.“ Inmitten des Weges tümpelte seelenruhig ein Bach. Mag's Augen stachen heraus. Von schmerzenden Beinen war keine Spur. Leichtfüßig wie eine Libelle sprang sie auf das süße Wasser zu. Behutsam beugte sie sich und schloss ihre geschundenen Finger um das kalte Wasser. Schnell rann ihr die Essenz alles Seins die heißen Wangen hinunter. Das Leben meinte es gut mit ihr. Gemütlich streifte Maggie ihre Schuhe ab und legte ihre Füße ins Nass. Entspannung pur. Zufrieden schloss Maggie ihre Augen und machte es sich bequem. Schließlich war hier niemand.
Unsanft weckten ihre schmerzenden Füße sie. Leicht benommen kam sie auf die Beine. Maggie wollte ihre Schuhe anziehen und weiterlaufen. Plötzlich pochte ihr Herz. „Wo sind meine Schuhe?“ Schnell tastete sie nach ihrer Kette. Wenigstens die war noch an Ort und Stelle. Genauso wie der restliche Schmuck. „Wie lange habe ich geschlafen?“ Sie sah die Sonne. Hönisch grüßte sie vom Zenit aus. „Werde ich verrückt? Ich hab doch mindestens eine Stunde geschlafen! Wer war hier? Und warum sind nur meine Schuhe weg?“ Immerhin war sie noch an einem Stück. Tapfer überquerte sie den Bach. Was auch immer Geschah: Zurückgehen war keine Option. Tick, tack. Tick, tack. Die Zeit verging rasch und plötzlich wärmte die Sonne Mag's Rücken. Keuchend lief die junge Dame dem Giganten entgegen. Ihre Schritte beschleunigten sich. Der Berg vor ihr nahm ihr immer mehr und mehr die Sicht. Unwillkürlich schoben sich ihre Mundwinkel nach oben. Sie lächelte. Jetzt lachte sie lauthals. Das lachen kam tief aus ihr heraus. Gleich hatte sie es geschafft. Der letzte Hügel. Und als sie fast am Fuße des Berges angelangt war, sah sie es. Nicht zu übersehen stand dort ein kleines Häuschen aus rotem Marmor. Das Dach war schief. Fehlende Steine reißten Lücken in das Häuschen. Grüner Moos überzog weite teile wie Belag auf Zähnen. Quietschend öffnete Maggie die Tür. „Vielleicht sind meine Schuhe dort drinnen?“ Mag blickte in Dunkelheit. „Hallo, ist da wer?“ Nichts. Leise klopfte Angst an Maggies Tür, doch Maggie winkte sie zu sich hinein. Sie akzeptierte das Gefühl. Maggie schwang die Tür ganz auf und trat ein. Jetzt ging Licht an. Verdutzt blinzelte sie mit den Augen. Der Raum war leer. Ganz im Gegensatz zu Maggie. Tick. Liebe und Trauer füllten ihren Leib. Heiß schossen Tränen in ihre Augen. Schluchzend durchquerte Mag den Raum, hin zur gegenüberliegenden Wand. Da hing es. Ein Bild ihrer verstorbenen Mutter. Hemmungslos, nicht ansatzweise in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen, weinte sie. Maggie nahm das Bild von der Wand und schmiegte es an ihren Körper. Tack. „Schau mal Mama, wie weit ich gekommen bin“, bibberte Mag mit schwacher Stimme. Das Bild blieb Stumm. Schwarze Augen sahen sie an. Leer. Leblos. Mag erinnerte sich nicht einmal mehr an ihre Stimme. Zu lange war's her. Doch das Gefühl, die bedingungslose Liebe, blieb. Hell leuchtete Maggie. Heller als alles andere. Sogar die Trauer war geblendet. Ihre Mutter kam nie wieder zurück. Das begriff sie. Ihre Mutter lebte weiter. In Maggie, durch die Liebe, die ihre Mutter ihr einst schenkte. Durch die Hingabe, durch ihre Taten, durch ihre Worte. Und Sie würde ewig Leben, durch die wachsende Liebe, die Maggie schenken konnte. Ihre rechte Hand hielt das Bild, während ihre Linke auf ihrer Kette ruhte. Beherzt stand sie auf und hang liebevoll das Bild auf. Sie blickte vorwärts. Maggie war bereit für den letzten Teil.

Mühsam schleifte Maggie ihr pochendes Bein hinter ihr her. Die letzten Stunden waren schweißtreibend gewesen. Mittlerweile konnte sie den Vollmond sehen. Wie er da so schimmerte. Wie er Jahr für Jahr, Tag für Tag seine Bahnen lief. Ohne sich einmal zu beschweren. Das wollte Maggie auch nicht. Maggie atmete flach, ihr Blick trübte sich und ihr Kopf wurde immer leichter. Sie schwebte. War wie die Sau im rausch. Nur nicht so wild. Ihr Blickfeld wurde immer dunkler, sie nahm kaum noch den Boden wahr. Kieselsteine rutschten unter Maggie weg, sie ruderte mit ihren Armen doch nutze das nichts. Sie fiel. Hart war der Boden, doch da unten fühlte er sich an wie das weicheste Bett. Erschöpft wollte Mag ihre Augen schließen. „Steh doch auf“, bat ihre Stimme sie höflich. Maggie erwachte innerlich. Urplötzlich war sie klar. „Weitergehen, ich will weitergehen.“ Zufrieden, mutig, verständnisvoll und zugleich durchdrungen von Liebe raffte sie sich auf. Sie staunte nicht schlecht als sie merkte, dass der Gipfel in unmittelbarer Nähe war. Maggies jubelschrei füllte die Nacht. Der Mond bahnte ihr mit seiner Weitsicht den Weg. Schritt für Schritt kam Maggie dem gewünschtem Ziel näher. Je enger der Abstand zwischen ihr und dem Gipfel kam, desto ruhiger wurde sie. Eine Präsenz war hinter ihr zu Spüren, vor ihr ein breites Plateau. Geradeaus war eine kleine Quelle, eingebettet zwischen schönen, glatten Steinen. Maggie musste sich nicht umdrehen, sie wusste wer hinter ihr ist. Sie fühlte es regelrecht. Die alte Verkäuferin, neben ihr die Wildsau auf Beckenhöhe. Ihre Mutter und der Jäger, sie alle nahmen sich an der Hand. Kurz vor der Quelle sah sie ihre verlorengeglaubten Schuhe. Nickend zog sich Maggie aus. Sie fasste ihr Kleid am Rand und zog es mit einem Schwung über ihren Kopf. Ihr Schmuck am Körper folgte zugleich. Fein säuberlich legte sie alles neben ihre Schuhe. Abermals legte sie ihre Hand auf ihre Kette und knüpfte es auf. Still lag sie auf ihrer Hand. Es war eine einfache Kette aus Silber. Daran hing eine fingerkuppengroße Perle, die durch das Licht des Mondes in allen Farben leuchtete. Liebevoll wanderte auch die Halskette auf ihr Kleid.
Es war so weit. Maggie vibrierte. Ihr Kopf, besonders hinter der Stirn, ihre Arme und Beine. Ihr ganzer Leib. Mag war aufgeregt wie ein kleines Kind, doch hatte dieses Gefühl keinerlei Auswirkungen. Leicht wie der Flügelschlag eines Schmetterling's setzte Maggie zu den letzten Schritten an. Sie ließ alles weltliche zurück. Alles was sie jemals zu wissen glaubte, alles was irgendwer zu wissen glaubte oder besaß. Das fremde wartete auf sie. Friedvoll tauchte Margarethe in die Quelle ein.
Endlich.

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