Blinder Passagier

Bild von J. Robin Höhne
Bibliothek

Die Übelkeit ist mein größtes Problem. Im Moment. Schöne Abwechslung. Sich auf so etwas Einfaches, fast schon Tierisches zu konzentrieren: nicht übergeben. Und wenn dann nicht auf die Anderen. Könnte man mir übel nehmen.
Schön. Ein klares Ziel vor Augen zu haben: Nicht kotzen. Egal wohin. Nicht kotzen.
Weiter kann ich nicht denken. Große Gedanken sind wertlos in dem kleinen roten Boot. Wie riesig das Meer ist, muss ich nicht wissen. Ich sehe kein Land zwischen dunklen Gesichtern, dunkleren Wellen und hell himmelblauer Leere um mich.
Ich kann nicht schwimmen. Das ist alles, was von Bedeutung ist. Ich muss in dem Boot bleiben, das ich nicht steuere. Ich kann nicht schwimmen. Das ist alles, was ich wissen muss.
Wie lang die Fahrt noch ist, muss ich nicht wissen. Frage nicht. Keine gute Idee. Den Mund zu öffnen.
Ich sehe kein Land. Ich kann nicht mehr sehen. Ich bin blind vor lauter Helligkeit und Leere und – blau. Ich kann atmen und den Mund geschlossen und mich an irgendetwas festhalten. Das ist alles, was von Bedeutung ist. Ich lebe. Das ist alles, was ich weiß.

Mein Leben war einmal viel wert. Jetzt bin ich genauso viel wie jeder andere in dem kleinen roten Boot: Ein blindes, noch schlagendes Herz. Mehr nicht.
Für große Gestalten ist hier kein Platz.
Wenn ich sterbe, weiß niemand mehr, wer ich bin.

Mein Geist war einmal wertvoll. Rebellisch. Schlagzeilen in meinem Kopf. Jetzt bin ich nur noch ein rebellierender Magen mit einem lächerlichen letzten Tropfen Selbstachtung. Ein Tropfen. Magensäure. Steigt auf, wird geschluckt, hinab gedrängt, steigt wieder auf. Nicht kotzen.
Und ein kleines, blindes, noch schlagendes Herz in einem kleinen roten Boot.
Rot. Blau. Und irgendwo dazwischen: Wir alle; blinde Passagiere.

Mehr von J. Robin Höhne lesen

Kommentare

26. Aug 2015

Danke !
für diesen Blick
er soll rasten im Genick
bei jenen die sich beugen
bei jenen die es leugnen