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Lübeck.
„Und wie soll ich zum Landgericht finden?“, fragte er mich nach dem Frühstück, als wir uns, wie am Abend zuvor verabredet, im Kirschgarten trafen.
„Hat Tante Selma keinen Stadtplan von Lübeck?“, fragte ich erstaunt. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass eine Frau, die über eine umfangreiche Bibliothek mit sämtlichen Klassikern verfügt, keinen Stadtplan von der nächstgelegenen größeren Stadt besitzen sollte.
„Weiß nicht“, sagte Hannes desinteressiert, „hab noch nicht nachgeschaut.“
„Dann wird es aber allerhöchste Zeit, Hannes“, riet ich ihm. „Morgen wird es ernst. Wie geht es übrigens Kora?“
„Du wirst es nicht glauben“, sagte Hannes, „aber sie hat sich mit diesem Kai verabredet.“
„Das erstaunt mich keineswegs“, gab ich zur Antwort. „Was ist deiner Meinung nach daran so ungewöhnlich? Außerdem scheint er sehr nett zu sein.“
„Du kennst den Typ doch gar nicht“, erwiderte Hannes.
„Wenn Kora ihn mag, wird er schon okay sein“, beruhigte ich ihn.
„Ich habe dir das ganze Konzert vermasselt, Katja“, seufzte Hannes und sah mich traurig an.
„Helge hat es uns vermasselt“, stellte ich nüchtern fest.
„Wo ist eigentlich mein Vater hingestiefelt?“
„Zum Pferdestall. Er will mit Konny die Pferde striegeln.“
„Mit Konny?“, fragte Hannes erstaunt. „Was für ein nettes Gespann.“
Kröger war mir heute Morgen auf der Wendeltreppe begegnet, als ich zum Frühstück runterging, liebe Christine. Er fragte mich, was wir uns für diesen Tag vorgenommen hätten, ob wir nicht zu den Kiesteichen fahren wollten; das Wetter sei doch einfach herrlich ... viel zu herrlich, um Weidezäune zu reparieren, hatte er geseufzt.
Mir lag auf der Zunge, dass Mutti ihm liebend gerne helfen würde, vielleicht in einer grasgrünen Robe mit Seidenschal und efeugrünen Handschuhen, aber ich war noch ein wenig verlegen wegen des Pyjama-Streichs, den er durchschaut hatte (jedenfalls verdächtigte er die richtige Person, nämlich mich, liebe Christine), weshalb ich gleich darauf an ihm vorbei und zu Leni in die Küche lief. Ich musste plötzlich an die arme Kora denken und dass sie vermutlich nie wieder durch einen Wald fahren würde, selbst dann nicht, wenn Kai sie begleiten würde.
Leni und Heiner saßen am Küchentisch und unterhielten sich über die Geburtstagsfeier. Ich blieb in der Tür stehen und wartete ab ...
„Abends gab es Brötchen mit Wildlachs“, erzählte Heiner. „Die haben saugut geschmeckt, Leni. Sowas Extravagantes habe ich lange nicht mehr gefuttert.“
„Und weshalb hast du mir keins mitgebracht? Seit Jahrzehnten habe ich keinen echten Lachs mehr gegessen. Ich glaube, das letzte Mal vor dem Krieg. Die Gnädigste mag ja keinen Fisch.“
„Daran habe ich leider nicht gedacht. Vielleicht im nächsten Jahr. Übrigens, welchen Krieg meinst du eigentlich, Leni?“, fragte Heiner scheinheilig.
„Du kannst gleich was erleben!“, schnaubte Leni wütend. „Im nächsten Jahr bin ich wahrscheinlich bereits tot, wenn Axel und du, ihr Banditen, mich weiterhin so ärgert.“
„Guten Morgen, Leni und Heiner“, rief ich, als ich die Küche betrat.
„Was hat der Gutsverwalter dir denn Böses angetan, Leni?“ Heiner grinste zufrieden.
„Ach, ich weiß auch nicht, welche Laus dem schon wieder über die Leber gelaufen ist. Vermutlich hat er mal wieder schlechte Laune. Hat seinen Kaffee einfach in den Ausguss geschüttet und ist ohne Gruß davongestiefelt.“
***
„Konny schleimt sich seit Neuesten auf dem Gutshof ein“, hörte ich Hannes hinter mir offenbaren, während ich das Herrenzimmer durchquerte, um in den großen Saal zu gelangen. „Ist dir das auch schon aufgefallen, Katja?“
Ich wandte mich um. Er saß in einem der Sessel, die um einen kleinen Eichentisch gruppiert sind.
„Nein“, gab ich zur Antwort. „Mich plagen zur Zeit ganz andere Sorgen.“
„Komm bitte mit zu Tante Selma“, bat Hannes. „Dann können wir auch gleich nach einem Stadtplan schauen. Und du – willst morgen wirklich nicht mit mir kommen, Katja?“
„Es geht nicht, Hannes. Mutti und Oma würden es mir ja doch nicht erlauben.“
„Dann muss ich tatsächlich ganz allein in dieses furchtbare Gericht, in diese komische, finstere, gewiss sehr staubige Registratur. – Wonach sind die Akten eigentlich geordnet?“
„Hannes“, seufzte ich. „Zunächst wird mit einer arabischen Zahl die Nummer der Kammer angegeben, die die Sache führt. Dann folgt ein Großbuchstabe oder eine römische Ziffer, die die Art der Angelegenheit kennzeichnet. Danach wird vermutlich die laufende Nummer der Sache und gleich dahinter der Jahrgang angegeben, im welchem die Angelegenheit registriert wurde. Das ist am wichtigsten für dich. Das Aktenzeichen ,2 Js 100/62' würde also bedeuten, dass es sich um eine bei der Zweiten Strafkammer des Schwurgerichts anhängigen Strafsache handelt, mit der laufenden Nummer 100 aus dem Jahr 1962. Kapito? Außer der Jahreszahl ist das ,Js' von großer Wichtigkeit und für uns relevant. Das ,Js' sagt uns nämlich, dass es sich bei der nämlichen Angelegenheit um eine Strafsache handelt.“
„Noch einmal, Katja, aber bitte etwas langsamer“, stöhnte Hannes.
Ich wiederholte meinen kleinen juristischen Vortrag und versuchte Hannes, der verzweifelt schien, zu beruhigen: „Mach dir keine Sorgen. Du wirst die Akte finden, hundertpro. Notfalls schaust du eben alle Strafsachen aus dem Jahr 1962 durch. Und vergiss bitte deine Taschenlampe nicht, Hannes.“
Mir kam mit einem Mal in den Sinn, dass ich dir während Hannes' Abwesenheit vom Hof nichts Aufregendes würde bieten beziehungsweise schreiben können, liebe Christine, es sei denn, Helge gäbe uns erneut in irgendeiner Form zu verstehen, wie sehr er uns alle hasste.
„Wie kommt es eigentlich, dass du über diese Dinge so hervorragend unterrichtet bist, Katja?“, fragte Hannes und sah mich misstrauisch an.
„Das kann ich dir ganz genau erklären, Hannes“, sagte ich.
„Ich sitze in der Schule neben einem Mädchen, dessen Vater der beste Strafverteidiger in meiner Heimatstadt ist. Da hört man nicht nur formale Dinge, sondern noch ganz andere Sachen. Geh ruhig schon mal vor zu Tante Selma. Ich fahre nur noch kurz zur Post ins Dorf.“
„An den schönen Harry geschrieben?“, fragte Hannes.
„Ja“, gab ich zur Antwort. „Gestern ist sein zweiter Brief gekommen. Er macht sich Sorgen.“
„Aus gutem Grund“, sagte Hannes. „Wenn der wüsste, was hier los ist, würde er dich sofort von hier wegholen.“
„Vielleicht noch eher, wenn er wüsste, dass du hier bist, Hannes“, sagte ich leise.
„Was hast du ihm denn geschrieben?“, fragte er. „Dass du dich in mich verliebt hast?“
„Hast du etwa schon wieder in meiner Post herumgeschnüffelt?“,
Kommentare
Die Collage - wunderschön. Was wird Hannes in Lübeck erfahren? Ich bin gespannt.
Liebe Grüße - Marie
Vielen Dank, liebe Marie, für deinen Kommentar. Ja, jetzt wird es spannend - und die Ermittlungen beginnen für Katja und Hannes.
Liebe Grüße,
Annelie
Die Mischung, sie stimmt! Nach wie vor:
Spannung und Liebe - viel Humor!
(Bloß Berha Krause ist empört:
Weil der "Hausdrachen" sie stört ...)
LG Axel
Dank. Axel, dir, für deinen Kommentar,
der heute wieder mal sehr freundlich war.
Krause lass ich trotzdem grüßen.
LG Annelie
Ja, die Spannung steigt und mit
ihr die Lesefreude !!!
Tolles Schreibwerk mit genialer Fotomontage.
LG Volker
Danke, lieber Volker; dein freundliches Lob tut mir sehr gut.
Liebe Grüße und Dir und Deiner Frau ein
wunderschönes Wochenende,
Annelie
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