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klingelt bei Herrn Cherek, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Ein um Jahre gealterter Mann, der Mühe hat, Frederike zu erkennen, öffnet ihr die Tür.
„Geht es Ihnen gut? Haben Sie schon die Verwüstung im Hausflur gesehen?“
„Ach, du bist es, Mädchen.“ Der alte Man hört sich resigniert an, „Ich habe es noch nicht geschafft, die Überreste zu beseitigen. Ich muss mich erst einmal um mein Küchenfenster kümmern. Das wurde mir heute Nacht auch eingeschmissen.“
„Haben Sie denn mitbekommen, wer das war? Sie müssen das zur Anzeige bringen.“
„Ich weiß nur“, erklärt der Alte tonlos, „dass ich die Reparatur des Fensters selber bezahlen muss. Ich glaube auch nicht, dass sich die Polizei für diesen Fall interessieren wird. Wer macht so was bloß?“
Frederike bietet ihm an, mit dem Fensterrahmen zum Glaser zu gehen. Er nimmt das Angebot dankend an. Aber sein Lächeln fehlt, das er ihr sonst, aufmunternd auf den Weg mitgab.
Zurück vom Glaser begegnet sie wieder Herrn Weber. Ihn hat der Alltag schon eingeholt, denn Frederike hat Mühe, mit ihm Schritt zu halten.
„Na, machste dich nützlich?“, begrüßt er sie.
Frederike überhört diese Spitze und erzählt ihm, was vorgefallen ist.
„Ich frage mich“, sagt sie abschließend, „ob dieser Anschlag nicht mit der Sanierung im Zusammenhang steht.“
Herr Weber hat ruhig zugehört und sagt, sie solle ihn später am Abend besuchen. Er wird sich umhören.
Frederike setzt das Fenster bei Herrn Cherek ein und sucht nach Trost spendenden Worten für den alten Mann.
Danach klingelt sie bei Herrn Weber. Er führt sie in ein Zimmer und lässt sie dort allein. Frederike sieht sich um. Obwohl sie nicht besonders ängstlich ist, wird es ihr unheimlich. Sie fühlt sich, als hätte man sie in der Gruft einer lang ausgestorbenen Adelsfamilie zurückgelassen. Das Zimmer ist abgedunkelt, und die Wände sind übersät mit Armeen aufgespießter Insekten. Sie steht gebannt da und wartet darauf, welches der Tierchen sich als Erstes bewegen und aus der Reihe tanzen wird.
Alles bleibt still. Bis Herr Weber mit klappernden Tassen und einer Kanne Tee erscheint und Frederike daran erinnert, weswegen sie eigentlich hier ist.
Er hält einen langen Vortrag über die Rechte der Vermieter und die Pflichten der Mieter. Seine Rede endet, indem er ihr mitteilt, dass die einzige erfolgreiche Möglichkeit, die Sanierung zu stoppen oder wirksam mitzugestalten, eine geschlossene Weigerung der gesamten Mieterschaft des Hauses erfordert.
Frederike wird hellhörig. Eine geeinte Mieterschaft, das hört sich nach Revolutionärem an. Sie springt auf, um die Revolution nicht warten zu lassen. Obwohl es schon anfängt zu dunkeln, geht sie und setzt sich an ihre Trommeln. Wie erwartet dauert es keine zehn Minuten, bis es an ihrer Tür klingelt. Sie spielt noch ein paar Takte, um auch den geduldigeren Nachzüglern eine Chance zu geben, und öffnet dann erwartungsvoll ihre Wohnungstür. Bis hierhin klappt alles nach Plan.
Aus allen Mietparteien sind aufgebrachte Gesichter vor ihrer Tür zu sehen. Bevor noch jemand sich mit Worten beschweren kann, eröffnet Frederike ihre Rede.
„Ich weiß, Sie sind empört, aber ich habe eine wichtige Mitteilung für Sie alle, die meine scheinbare Rücksichtslosigkeit erklären wird.“ Sie fängt an, die zu erwartenden Umstände der Sanierung zu erläutern, macht auf die Bedrängungen des Vermieters gegenüber Herrn Cherek aufmerksam, und entflammt durch ihre Rede erklärt sie aus tiefster Überzeugung, dass es in den Händen der gesamten Mieterschaft läge, dem geplanten Wucher und anderen Schikanen Einhalt zu gebieten.
Als Frederike ihre Rede beendet hat, sieht sie gespannt die Nachbarn an. Die Empörung in den Gesichtern ist aber nicht gewichen, sondern hat sich höchstens mit einem ungläubigen Zweifel gemischt.
Langsam werden einzelne Stimmen laut.
„Was geht mich der alte Cherek an?“
„Ich zahle gerne mehr Miete, wenn ich keine Kohlen mehr schleppen muss.“
„Zieh doch aus und mach woanders Krach.“
Endlich lässt die Empörung ein aufgebrachtes Gemurmel entstehen und treibt die Versammlung wieder auseinander.
Enttäuscht legt sich Frederike in ihr Bett und träumt, sie hätte einen Streit mit dem Vermieter. Die Nachbarschaft umringt sie und feuert den Vermieter an. Da verwandelt sich Frederike in eine Kakerlake und versucht, dem Kreis der brüllenden Riesen zu entfliehen. Gerade sieht sie einen Weg, um zu entkommen, da fällt eine übergroße Schuhsohle auf sie nieder.
Schweißgebadet wacht Frederike auf. Sie fühlt sich schwach und will nicht aufstehen. Als sie später die Post öffnet, weiß sie, dass sie verloren hat.
Die Mitteilung über die zu erwartende Mieterhöhung lässt sie endgültig in die Knie gehen. Um das Doppelte soll sich die Miete erhöhen. Frederike muss nicht erst lang rechnen, um zu erkennen, dass das ihre Finanzierungsmöglichkeiten völlig übersteigt. Mit dem Schreiben in der Hand hat sie das Gefühl, dass sie nur noch gebeugt gehen kann.
Es kann sie auch nicht aufrichten, als Herr Weber ihr erzählt, dass er nach einem nächtlichen Spaziergang auf dem Hof einen Jugendlichen mit Pflastersteinen gestellt hat. Dieser hat zugegeben, auch schon in der vorherigen Nacht auf Fensterscheiben gezielt zu haben, da er dafür von einem Mann bezahlt wurde. Die Beschreibung lässt keinen Zweifel, dass es sich bei dem Auftraggeber um den Vermieter handelt.
So ist Frederike auch nicht erstaunt, als Herr Weber ihr mitteilt, dass der Junge vor einigen Tagen eine Schachtel mit Kakerlaken oberhalb des Lüftungsschachts ausgesetzt hatte. Dieser Zeitraum entspricht ungefähr der Entwicklungsdauer der Kakerlakenlarven, erklärte ihr Herr Weber. Frederike will sich nicht vorstellen, was diese Aussage bedeutet. Mit einer beunruhigenden Vorahnung steigt sie die Stufen zu Herrn Chereks Wohnung empor. Herr Weber folgt ihr.
Die Tür ist nur angelehnt. Vorsichtig, wie nach einem Überfall betreten sie die Wohnung und rufen den Namen des alten Mannes. Niemand antwortet. Nur aus der Küche sind Geräusche zu hören. Frederike öffnet die Küchentür und kann sich vor Schrecken und Ekel nicht bewegen. Ähnlich wie in Herrn Webers Zimmer ist die Küche voller Kakerlaken. Aber jetzt sind sie lebendig, laufen über die Schränke und den Tisch. Überall bilden sie ein unregelmäßiges Muster aus schwarzen Flecken. Mitten in diesem Gewimmel sitzt Herr Cherek auf einem Stuhl, den Ausdruck des Entsetzens im Gesicht, unfähig, sich zu bewegen. Kleine schwarze Tiere laufen ungehindert auf ihm umher.
Frederike überwindet ihren Ekel und geht zu dem alten Mann, um ihn aus seiner unangenehmen Lage zu befreien. Bei jedem Schritt knirscht und knackt es unter ihren Füßen. Angespannt wartet sie darauf, dass sich die ersten Tiere auf sie stürzen. Sie versucht, den alten Herrn aus seiner starren Position zu befreien. Er erkennt sie nicht und murmelt monoton vor sich hin. „Das ist nicht meine Küche. Ich muss hier weg. Das ist nicht meine Küche.“
Behutsam nimmt Frederike ihn am Arm und redet beruhigend auf ihn ein. „Ja, wir gehen weg hier. Gleich werden wir hier weg sein.“
Auf einmal hört sie Herrn Weber rufen: „Stehen bleiben, nicht bewegen. Da! Da ist eine Periplaneta australasiae! Die gibt es nur ganz selten.“
Ohne ein Wort zu verlieren, nimmt Frederike den alten Mann. Beim Verlasse der Küche tritt sie auf die Stelle, die Herr Weber in seiner Aufregung mit den Augen anvisierte. Es knackt und knirscht unter ihrem Fuß. Für Frederike ist es, als würde sie noch einmal aus ihrem Traum erwachen. Mit dem alten Mann am Arm verlässt sie die Wohnung, den Treppenflur, das Haus. Sie wünscht sich, dieses Haus nie mehr betreten zu müssen.