Gefährlicher Sommer (Teil 19; Text 1) - Page 3

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nachschauen, ob irgendetwas entwendet wurde, Bargeld, Schmuck oder andere Wertsachen“, sagte der ältere der beiden Männer.
„Ach ja! Und begleiten Sie die beiden bitte. Sie müssen Ihr Vernehmungsprotokoll noch unterschreiben. Wir brauchen dann auch noch Ihre Fingerabdrücke und die von Ihren Freunden, um Sie und die Kinder des Opfers auszuklammern. Keine große Sache.“
Ich nickte und dachte nur noch im Kreis. Mir schwirrte seit einer geraumen Weile der Kopf: Helge ist in Lübeck und anscheinend doch nicht dort. Helge reitet auf Herkules und reitet anscheinend doch nicht auf Herkules, weil sein Wagen verschwunden ist. Fazit: Helge, Herkules und der Wagen sind verschwunden.
Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand anderes als Helge Tante Selma niedergeschlagen hat, liebe Christine. Vielleicht will er sich mit seiner spektakulären Doppel-Abwesenheit (VW und Herkules) ein Alibi verschaffen. Der Überfall auf Tante Selma sollte vermutlich eine Warnung für Konny und Kora sein, obwohl die beiden mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun haben, geschweige denn die gute Tante Selma. Aber das weiß der Täter selbstverständlich nicht. Er glaubt vermutlich, dass wir vier unter einer Decke stecken.
Ich war plötzlich heilfroh, dass Hannes weit weg war. Er hätte auf Anhieb Helge verdächtigt und ihn mit Sicherheit erwürgt oder zumindest zum Duell gefordert (Gewehre hängen ja nun wirklich genug im Gutshaus herum) – womöglich wie Baron Instetten, der diesen Major Krampas in Fontanes Roman „Effi Briest" zum Duell gefordert hat, obwohl der fantasielose Landrat ein ganz anderes Motiv hatte. Ich dachte eine Weile darüber nach und tröstete mich schließlich damit, dass Hannes diesen Roman aller Wahrscheinlichkeit nach weder gelesen noch dessen Titel und Inhalt kannte.
Das Warten auf Kora und Konny machte mich allmählich verrückt. Ich malte mir in sämtlichen Einzelheiten aus, dass auch ihnen etwas Schreckliches zugestoßen sein könnte. Aber was um alles in der Welt hatte Tante Selma mit der Sache zu tun!? Sie wäre möglicherweise verblutet, wenn ich sie nicht rechtzeitig gefunden hätte. Gott segne meinen Einfall, sie nach dem total verwirrenden Abschied von Hannes aufzusuchen, dachte ich. Wäre Helge wirklich so weit gegangen und hätte den Tod von Tante Selma in Kauf genommen oder hatte er mich auf den Weg zu ihr beobachtet? Vielleicht war er mir sogar ein Stück weit gefolgt und danach über die Abkürzung durch den Park ins Haus gelangt? Ja, so musste es gewesen sein! So und nicht anders! Alles sprach dafür, dass er Tante Selma kurz vor meinem Eintreffen im Haus niederschlug, nachdem er festgestellt hatte, dass Kora und Konny nicht daheim waren. Es kommt mir im Nachhinein wie ein Wunder vor, dass ich bei Tante Selmas Anblick nicht schreiend aus dem Haus gelaufen bin; denn erstens wird mir, wie du ja längst weißt, liebe Christine, beim Anblick von Blut schwindelig bis zum Umfallen, und zweitens habe ich noch niemals zuvor einen Menschen wie tot auf dem Boden liegen sehen, noch dazu in einer Blutlache. Die bange Frage, wie Kora und Konny reagieren würden, wenn sie erführen, dass ihre Mutter niedergeschlagen wurde, beherrschte meine Gedanken und wollten mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich stand vom Sessel auf, strich Tom, der neben mir eingeschlafen war, über das Fell, und ging in die Küche, um einen Zettel zu suchen. Ich konnte und wollte nicht länger auf Kora und Konny warten, sondern ihnen stattdessen eine Nachricht hinterlassen. Die Polizeibeamten hatten Tante Selmas Körperkonturen mit einem Kreidestift nachgezeichnet. Ich wusste nicht, ob ich die Spuren schon beseitigen durfte und musste mir große Mühe geben, an der Zeichnung vorbeizukommen. Tante Selma hatte nämlich zwischen Kochherd und Küchentisch auf den Fliesen gelegen. Ich zwängte mich am Tisch vorbei und hangelte mich auf die Anrichte zu, auf der ein Notizblock lag. In der obersten Schublade fand ich einen Bleistift. Er lag in einem kleinen Fach neben den Essbestecken. Ich riss den obersten Zettel ab und legte ihn zur Seite. („Mehl, Eier, Backpulver, Haselnüsse, Zucker“ war in einer Mädchenhandschrift darauf notiert). Offenbar hatten Tante Selma und Kora vorgehabt, einen Kuchen zu backen.
„Bin mit Tom in der Laube auf dem Gut. Bitte kommt sofort dorthin. Eure Mutter liegt im Krankenhaus“, schrieb ich in Druckbuchstaben und drückte mit der stumpfen Mine enorm fest auf, damit die Nachricht gleich ins Auge fiel. Ich befestigte den Zettel mit einem Stück Zwirn, den ich in Tante Selmas Nähmaschine im Wohnzimmer fand, außen an der Türklinke und zog, nachdem ich Tom geweckt hatte, die Tür hinter mir zu. Hoffentlich haben Kora und Konny einen Schlüssel mit, dachte ich.
Der dicke Tom machte es sich sogleich auf dem Rasen bequem – im Schatten einer sorgfältig gestutzten Rhododendronhecke. Sein kalbsgroßer Kopf ruhte erschöpft zwischen den riesigen Vorderpfoten. Ich streichelte sein langes geflecktes Fell und ahmte Hannes' Tonfall nach: „Komm, alter Junge, wir besuchen jetzt die Damen in der Veranda. Eigentlich solltest du in der Lage sein, verirrte Wanderer aufzuspüren und verschüttete Bergsteiger zutage zu fördern, wie deine pfiffigen Artgenossen. Weshalb hast du dummer Kerl Tante Selma nicht beschützt?!“
Tom hob kurz den Kopf, sah mich durchdringend an und begann wütend zu knurren. Wahrscheinlich fühlte er sich in seiner Ehre verletzt.
„Na, ja, alter Knabe“, fuhr ich besänftigend fort, „dieser fiese Unhold hätte dich auch vergiften können.“
Kurz vor der Laube vernahm ich erregte Stimmen, die wild durcheinander schwatzten. Der Überfall auf Tante Selma hatte sich allem Anschein nach bereits im ganzen Dorf herumgesprochen, und ich ahnte, dass in Omas und Opas kleinem Gartenhaus eine Versammlung stattfand, die es ohne Weiteres mit dem Ältestenrat in der frühen griechischen Polis aufnehmen konnte. Aber bevor die für mich aufgesparten, unzähligen Fragen der Lachauer Weiber, das Attentat auf Tante Selma betreffend, wie ein Gewittersturm auf mich hereinprasseln konnten, kreuzte Hannes' Vater Toms, der jetzt brav neben mir hertrottete, und meine Wege. An Krögers Seite schritt ein Mann, den ich noch niemals zuvor gesehen hatte. Er war mittleren Alters, vielleicht etwas älter als Kröger, und eine ganze Ecke kleiner als der neue Gutsverwalter, aber mit hellwachen, himmelblauen Augen, die flink und forsch das Herrenhaus und den Hof im Visier hatten und nun mich und Tom eingehend musterten. Auffällig an ihm waren auch der weizenblonde Bürstenhaarschnitt, die vielen tiefen Querfalten auf der Stirn und das markante Kinn. Wenn das kein Kriminaler ist ..., begab sich mein Denkapparat auf abenteuerliche Reisen.
„Katja!“ Kröger trat mit bewegter Miene auf mich zu, was Tom dazu veranlasste, ungestüm an ihm hochzuspringen und wie ein Verrückter zu bellen, als wolle er jeden Kontakt zwischen uns unterbinden.
„Ist ja gut, Tom“, sagte Hannes' Vater ärgerlich, tätschelte dabei jedoch geistesabwesend Toms großen Kopf. „Du hast meine Schwester gefunden und Hilfe geholt, Katja“, fuhr er dann fort und blickte mir dabei mit einem umwerfenden Lächeln geradewegs in den Augen. „Wie kann ich dir jemals dafür danken?“
Nichts leichter als das: Indem sie die Sache ganz schnell vergessen, hätte mein einstiger Held Jerry Cotton bescheiden abgewunken. Mein schlechtes Gewissen jedoch ließ mich schweigen, und ich wusste vor lauter Verlegenheit nicht, wohin ich blicken sollte. Hannes' Vater war sichtlich aufgeregt. Er schüttelte meine rechte Hand wie wild hin und her und wollte sich überhaupt nicht mehr beruhigen.
„Darf ich mich vorstellen“, unterbrach der Herr an seiner Seite die peinliche Situation (zumal die Damen Toms Gebelle offensichtlich zum Anlass genommen hatten, ihre wichtige Sitzung zu unterbrechen). Sie hatten sich mit vermutlich bleischweren Gliedern erhoben und waren theatralisch aus der Laube ins Freie getreten waren. Zu meinem großen Erstaunen waren Helge und Heiner mit von der Partie. Nur Opa konnte ich nirgendwo entdecken.
„Ach ja“, schien Kröger plötzlich wie aus einem Traum zu erwachen und ließ endlich meine Hand wieder frei. „Das ist übrigens Herr Fuchs, Kriminalhauptkommissar aus Lübeck. Würdest du ihm bitte erzählen, was sich heute Morgen im Hause meiner Schwester zugetragen hat?“
„Wo sind denn eigentlich Kora und Konny?“, erkundigte ich mich, anstatt meinen Bericht stante pede abzuspulen. Axel Kröger sah mich überrascht an. „In Sickum. Ich dachte, du wüsstest davon. Dort gastiert für einige Tage ein kleiner Zirkus. Sie wollten sich die Tiere anschauen.“
Ich atmete erleichtert auf, obwohl ich nicht wenig erstaunt darüber war, dass weder Kora noch Konny mir von ihrem Vorhaben erzählt hatten. Aber weshalb sollten nicht auch sie Geheimnisse haben?! Und in der Tat waren die ihren bedeutend harmloser, und mich überkam zum ersten Mal ein leichter Anflug von Neid, liebe Christine, denn Hannes' und meine Heimlichkeiten drohten mittlerweile, ins Gemeingefährliche abzugleiten.
Ich lieferte Kröger und dem Kriminalen mit dem Adlerblick einen präzisen, spannenden Tatortbefundbericht, und alle Anwesenden lauschten andächtig meinen Worten. Hätte Tom nicht plötzlich Helge gerochen und ununterbrochen angeknurrt, wäre das Fallen der berühmten Stecknadel auf das Erdreich zu hören gewesen. Als ich mit meiner Berichterstattung fertig war, bogen Konny und Kora auf ihren Rädern in den Hof.
„Was ist denn hier los?“, fragte Konny erstaunt. „Große Ratsversammlung? Soll etwa jetzt schon ausgelost werden, wer in diesem Jahr Erntekönigin wird?“
Ich fühlte mich bei diesen Worten sogleich lebhaft an „Macheath" und seine kessen Sprüche erinnert und spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. Hannes' Einfluss schien selbst vor Konny nicht haltzumachen.
„Nein, Konny“, sagte Kröger mit ernstem Gesicht. „Eure Mutter ist von einem Unbekannten überfallen worden. Sie liegt in Lübeck im Marien-Hospital.“ Kora schrie im nächsten Moment auf, und Konny schossen die Tränen in die Augen.

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Kommentare

22. Sep 2017

Die Spannung bleibt! (Der Leser auch -
Wie ich kaum zu betonen brauch ...)
[Was Krause mit Einbrechern macht,
Erinnert schwer an "Küchen-Schlacht" ...]

LG Axel

22. Sep 2017

Dank, lieber Axel, dir, für deinen guten Kommentar.
Ich glaube fast, die krause Bertha früher mal beim Barras war.
Und oder aber Boxerin gegen den starken Muhammad Ali.
Ich glaube fast, ich reiche ihr noch nicht mal bis ans Knie.

LG Annelie

22. Sep 2017

Die Klitschkos beendeten ihre Karrieren im Nu -
Da schlug Frau Krause knallhart zu ...

LG Axel

22. Sep 2017

Wo Bertha hin schlägt, wächst hernach kein Gras;
ich glaube fast, das bringt ihr auch noch Spaß.

LG Annelie

22. Sep 2017

Wird immer spannender und spitzt sich langsam zu.
Die Collage - wieder perfekt, liebe Annelie.

Liebe Grüße - Marie

22. Sep 2017

Danke, liebe Marie, für deinen "treuen" Kommentar. Es wird alles noch höher auf die Spitze getrieben - bis Katja, ach nein, ich verrate nichts, sonst ist es nicht mehr spannend. Ich freue mich, dass dir dir Collage gefallen hat.

Liebe Grüße und ein wunderschönes Wochenende
(hier war das Wetter - so um 17: 00 Uhr herum, sommerlich warm),
Annelie

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