Meine Mutter rief an, um mir zu sagen, wenn ich Oma Anni nochmal sehen wolle, solle ich mich in den nächsten Zug setzen. Sie sagte mir, als sie am Abend zuvor ihrer Mutter den Gute-Nacht-Kuss geben wollte und sich über sie beugte, hätte Oma Anni plötzlich laut aufgejammert und ihr sei schlecht geworden.
Oma Anni jammerte nie. Sie litt unter allen möglichen Krankheiten, die sie aber trotz ihrer Schwere nie gehindert hatten, im Rahmen ihrer Möglichkeiten den Haushalt zu führen, damit mein Vater und meine Mutter beruhigt den Familienunterhalt verdienen konnten. Einmal war ich Zeuge, wie beim Wenden der Koteletts eine gewaltige Fettblase hochbrodelte und ihre Hand förmlich glasierte – sie gab einen einzigen leisen Jammerlaut von sich, drehte das Gas unter der Pfanne ab, ging die drei Schritte zum Spülstein und ließ sich kaltes Wasser über die Hand laufen. Die Heilung der Brandwunde brachte später kühlender Quark; zu einem Arzt ist sie wegen dieser Kleinigkeit nicht extra gegangen.
Wenn sie also jetzt hörbar laut jammerte und ihr auch noch schlecht wurde dabei, musste wohl was Größeres passiert sein. Also rief meine Mutter den Notarzt, der wiederum den Rettungswagen, und so landete Oma Anni dann doch noch im Krankenhaus.
Dort stellte man fest, dass ein bis dahin nicht bekannt gewesener Krebs ihren Darm zum Platzen gebracht hatte und bereits so weit fortgeschritten war, dass die Ärzte noch nicht einmal mehr operierten, um ihr unnötige weitere Qualen zu ersparen. Sie legten sie auf die Intensivstation, versehen mit Schläuchen, Infusionen und einer Atemmaske, so dass sie noch nicht einmal mehr reden konnte, und begleiteten so ihr Sterben.
Von uns Familie durfte täglich nur eine Person sie besuchen, obwohl wir nach Möglichkeit alle gemeinsam ins Krankenhaus fuhren. Ich sah sie noch ein einziges Mal lebend; sie lag in einem lichtdurchfluteten Raum und so am Fenster, dass sie die Baumwipfel, die Vögel und den sonnigen Frühsommerhimmel noch sehen konnte, ihre braunen Augen waren ganz dunkel, aber sie schien sehr präsent zu sein.
Am nächsten Tag durfte mein Bruder zu ihr. Das war gut so, er war immer ihr Liebling gewesen. Als er auf dem Flur wieder zu uns stieß, sagte er ratlos: „Ich weiß nicht, was sie damit meinte – sie hat einen Zeigefinger gehoben. Heißt das, dass sie jetzt nach oben geht? Oder ist das, weil heute der 1. ist?“
Dazu muss man wissen, dass sie immer gesagt hatte, wenn sie sterbe, wolle sie so sterben, dass meine Eltern noch die Rente für den Sterbemonat kassieren sollten. Genau so hatte sie darauf bestanden, dass IHR „letztes Hemd“ nicht ohne Taschen sein sollte. Aus diesem Grund hatte sie schon vor Jahren einen extra zu diesem Zweck angeschafften Morgenmantel in ihren Schrank gehängt, weiß, mit einem kleinen Rosenmuster auf dem Kragen, mit zwei Taschen, rechts und links, und vor allem wattiert, damit sie in der kalten Erde nicht so frieren müsse.
Am nächsten Morgen erreichte uns die Nachricht, dass sie über Nacht „friedlich“ entschlafen sei. Und so traf beides ein: Ihr letztes Hemd hatte sehr wohl Taschen und sogar zwei davon, und es war ihr gelungen, die Familie nach dem Hausbau – entsprechend ihrem Vorsatz – mit einer weiteren Rentenzahlung zu unterstützen.
© noé/2019
Kommentare
Sie lebt im Text, der fasziniert -
Stark hast Du sie porträtiert!
LG Axel