Nur noch ein halbes Stündchen

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von Sigrid Hartmann

Gähnend erwachte der Morgen. Er war noch sooo müde. Schnell zog er sich die Wolkendecke wieder bis zur Nasenspitze und fragte die Nacht, ob sie nicht noch ein bisschen bleiben wolle!
Die schaute ihn an und schüttelte verwundert den Kopf: „ICH habe meine Arbeit getan, jetzt bist du dran! Versteck dich nicht hinter den Wolken. Komm heraus, was sollen die Menschen denken, wenn sie aufstehen und mich sehen, obwohl meine Zeit längst um ist. Sie erwarten dein Grau und nicht meine Dunkelheit.“
„Ach bitte, nur ein halbes Stündchen“, bettelte der Morgen und blinzelte die Nacht verschlafen an.
„Na gut, auf deine Verantwortung! Eine halbe Stunde und keine Minute länger!“
Der Morgen kuschelte sich in die Wolkendecke, machte die Augen zu und war schon eingeschlafen.
Die Nacht wanderte unruhig hin und her. Hoffentlich geht das gut, dachte sie und schaute auf die Uhr. 6:13 Uhr, in der Stadt klingelten die Wecker, die Fenster wurden geöffnet und die Menschen schauten verwundert zum nachtschwarzen Himmel empor. Es war stockfinster, denn der Mond und die Sterne hatten sich schon schlafen gelegt. Sie hatten nichts von der Abmachung zwischen der Nacht und dem Morgen mitbekommen und auch die Straßenlaternen waren schon ausgegangen, so wie an jedem Tag, wenn es Zeit fürs Morgengrauen war.
6:18 Uhr, die Zeit verging so langsam und die Nacht wurde immer unruhiger. Sollte sie den Morgen wecken, auch wenn die halbe Stunde noch nicht um war?
Inzwischen waren die Menschen aus ihren Häusern gekommen und schauten ängstlich zum Himmel. Was war passiert? Mit der Zeit hatten sie sich daran gewöhnt, dass man sich nicht mehr aufs Wetter und auf die Jahreszeiten verlassen konnte.
Der Frühling kam viel zu früh und versuchte den Winter zu vertreiben. Der wandert in den Süden, um dort den Herbst abzulösen, aber weil der noch nicht gehen wollte, kam der Winter zurück und vertrieb den Frühling wieder. Der Herbst blieb länger, weil er noch immer böse auf das frühe Eintreffen des Winters war. Und der Sommer – der wanderte zwischen den streitenden Jahreszeiten umher und schien völlig die Orientierung verloren zu haben.
Stürme tobten heftiger als je zuvor und die Regenschauer blieben auch viel zu lange an einem Ort, sodass es auf der Erde immer häufiger zu Überschwemmungen kam.
Wenn jetzt auch noch die Tageszeiten verrücktspielten – worauf konnte man sich dann noch verlassen.
Endlich war es 6:30 Uhr. Die Nacht rüttelte den Morgen wach, der verschlafen die Augen öffnete.
„Schnell, wach auf und schau dir an, was wir angerichtet haben! Hätten wir wenigstens dem Mond und den Sternen Bescheid gesagt, dann wäre es den Menschen vielleicht nicht aufgefallen, dass ich noch immer da bin. Wo ist eigentlich die Sonne?“, fragte die Nacht voller Angst.
„Die Sonne?“ Auch der Morgen war verwirrt.
„Du meinst, du hast ihr nicht Bescheid gesagt? Wo kann sie nur sein? Oje, oje, was haben wir gemacht???“
„Wir müssen sie suchen, steh endlich auf, ohne die Sonne wird es dunkel bleiben!“
Der Morgen rappelte sich auf und im selben Moment erklang die ärgerliche Stimme der Sonne, die einen ersten Strahl durch die dichte Wolkendecke schickte:„Sagt mal, was fällt euch denn ein? Ich sitze hier und warte darauf, dass du endlich aufstehst, du Faulpelz! Wenn das jeder machen würde, dann hätten wir überhaupt keine Ordnung mehr. Es ist schon schlimm genug, dass die Menschen die Nacht mit ihrer künstlichen Beleuchtung erhellen und fast zum Tage machen. Denkt ihr denn überhaupt nicht an die Tiere, deren Zeitgefühl ihr total durcheinander ringt? Der Lärm und die Strahlungen, die die Menschen erzeugen, haben die Sinne der Tiere aus dem Gleichgewicht gebracht und nun verwirrt ihr sie auch noch mit euren dummen Spielen. Was ist nur in euch gefahren!“
Die Sonne blinzelte hinter den Wolken hervor.
„Wo warst du denn? Warum hast du uns nicht früher gewarnt?“, erklang die Stimme der Nacht, die ganz klein geworden war, denn sie hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen und auch der Morgen murmelte kleinlaut ein „Entschuldigung!“ in die Wolken hinein.
„Solange du da bist, kann ich nicht aufgehen!“ meinte die Sonne kopfschüttelnd. „Ich dachte, dass wüsstet ihr. Ich habe hinter den Bergen gewartet, bis der Morgen endlich erwacht und habe die Sorgen der Menschen beobachtet. Viele meinten, dass es nun genug wäre. Sie schienen zu denken, dass sie auch an dieser seltsamen Dunkelheit Schuld hätten und dass man so nicht weitermachen dürfte, weil sonst die ganze Weltordnung aus dem Gleichgewicht geraten würde.“
„Ja, das habe ich auch gehört!“ meinte die Nacht, die wieder etwas selbstbewusster zu werden schien. „Meinst du, es könnte …“
„Nein“, unterbrach sie die Sonne. „Es ist nie gut, wenn man eine Ordnung verändert, nur weil es einem gerade in den Kopf kommt, weil man einfach nicht weiß, was dadurch entstehen kann. Die Menschen tun es jeden Tag, weil sie denken, sie wüssten, welche Auswirkungen ihre Handlungen haben, aber sie wissen es nicht. Eines hängt vom anderen ab und eine kleine Veränderung kann ungeahnte Auswirkungen haben, die niemand im Voraus wissen kann. Und nun solltest du endlich zu Bett gehen, damit wir unsere Arbeit machen können und denk daran, dass du heute Abend pünktlich bist!“
„Ja, du hast recht!“, murmelte die Nacht, die schon fast hinter den Bergen verschwunden war. „Ich bin ganz bestimmt pünktlich heute Abend!“ Vielleicht sollte sie sich noch einen zweiten Wecker stellen, dachte sie, denn sie merkte, wie müde sie durch die Aufregung geworden war. Es war fraglich, ob sie am Abend rechtzeitig wach würde.
Der Morgen hatte inzwischen sein Grau abgelegt, die Wolkendecke hatte er hinter die Berge geschoben und endlich strahlte die Sonne vom blauen Himmel herunter.
Später als sonst sah man die Menschen an diesem Tag zur Arbeit gehen. Sie hetzten nicht, wie sie es normalerweise taten, sondern unterhielten sich auf den Straßen über die merkwürdige Dunkelheit, die sie so noch nie erlebt hatten. Eine eigenartige Ruhe lag über der Stadt …

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