Oma Thea

Oma Thea war nicht nur meine Oma, sie war mir die beste Freundin, die ich je in meinem Leben gehabt habe, und sie ist mir mit ihrer gelebten Art zum Vorbild geworden.

Sogar, als ich beim (katholischen) Pfarrer die Birnen aus dem Garten geklaut hatte, hat sie (evangelisch) mich nicht kritisiert. Verschwörerisch hat sie davon mehrere Gläser Kompott gekocht und wir beide waren der Meinung, dass das sehr lecker geworden war. Wie auch anders: War doch die illegale Ernte vom Pfarrer selbst gesegnet worden!
Er hatte sicher beobachtet, was ich da in seinem Birnbaum trieb und war mir entgegengeschlendert gekommen, als ich gerade Reißaus nehmen wollte. Er sprach mich mit meinem Namen an und fragte: „Na? Was machst du denn hier?“ Es war derselbe Pfarrer, dem ich, so hatte man mir tadelnd erzählt, als Baby und soeben getauft auf seine Schuhe gepinkelt hatte, er sollte mich wohl kennen.

Ich log, dass sich die Balken bogen: „Äh, ich warte hier auf eine Freundin, aber die ist nicht gekommen.“ Mein Anorak krachte in den Nähten vor lauter hineingestopf-ten Birnen, die kaputten Taschenfutter hatten sie mir den Rücken hinaufwachsen lassen. Da er nicht blind war, hatte er das sicherlich mitbekommen. Aber er hob, oh-ne eine Miene zu verziehen, die Hand und segnete mich, leise murmelnd, – und also auch das Diebesgut.

Als der Kindergarten erweitert werden sollte, war auf dem Kirchengelände eine tiefe Baugrube ausgehoben worden mit exakten Rändern. Zwei Mitschülerinnen und ich hatten nach der Schule einen Ausflug zu diesem Baugelände gemacht. Jetzt standen wir zu dritt direkt am Rande dieses künstlichen Abgrundes und ärgerten die drei Bauarbeiter, die ganz am anderen Ende in dieser Grube eine Besprechung abhiel-ten.

Die waren natürlich sauer und schrien, wir sollten da weggehen, damit der Rand nicht einstürzt. Ja-ha! Weggehen! Wenn wir es befohlen bekommen! Das denkst DU!

Wir hüpften wie die Tütenkasper auf und ab und lachten und machten Faxen. Plötzlich wurde es dem einen Arbeiter zu viel. Er legte einen Sprint ein und sauste so schnell durch die Grube, dass ich es nicht mehr schaffte, nach meinem Tornister zu greifen, während die anderen beiden Übeltäterinnen im Null-Komma-Nix ver-schwunden waren. Ich suchte auch, Distanz zwischen mich und den Wildgewordenen zu legen, aber der hob triumphierend seine Beute in die Luft und schrie: „Wenn deine Eltern kommen, kannst du ihn wiederkriegen!“

Au weia! MEINE Eltern … Da war die nächste Tracht Prügel fällig. Wenn ich das überhaupt überlebte! Da war jetzt die Not sehr groß …

Also: Oma Thea.
„Was ist denn los, Mäuschen? Was hast du denn?“ Ich erzählte meiner großen Freundin den Tathergang sehr exakt, vor ihr brauchte ich nichts zu verheimlichen oder zu beschönigen.

Noch während ich erzählte, band sie sich die weiße Schürze ab, die sie beim Bügeln immer trug, und bekam ein wildes Glitzern in die Augen. Ich war noch nicht fertig mit Erzählen, da griff sie schon nach meiner Hand und zog mich hinter sich her.

Schnurstracks ging es zur Kirche. Und da zur Baugrube. Und dann wurde der Bauarbeiter ganz klein mit Hut, so fertig machte meine Oma ihn. Er kam gar nicht zu Wort. Erst, als er ihr an einem sehr langen Arm sehr vorsichtig den Tornister reichte, bat sogar ER meine Oma um Entschuldigung.

Meine Oma Thea, meine Heldin!

Und trotzdem habe ich Oma Thea ein Unrecht zugefügt. Und das beißt noch heute mein Gewissen.

Ich habe mir damals wirklich keine Gedanken darüber gemacht, wer wie viel Geld hatte. Ich hatte selber kein regelmäßiges Geld, sowas wie ein festes Taschengeld gab es nicht. Aber in meinen Augen hatten Erwachsene schon deshalb genug Geld, weil sie erwachsen waren. Warum Oma wohl täglich so viele Hemden bügeln musste – vielleicht machte es ihr ja Spaß? Dass sie von Zeit zu Zeit ein Zimmer vermietete, und selber in der Küche auf dem Kanapee schlief, toll, aber fremde Leute im Haus? Selbst wenn es so interessante Personen waren, wie die Balletttänze-rin vom Stadttheater oder der Redaktionsvolontär von der Tageszeitung. Naja, wenn es Oma Spaß machte …

Dass die pure Not sie dazu trieb, das konnte ich mir nicht denken. Auch, dass sie meines Wissens für das fast täglich von mir verschlungene Essen bei ihr von mei-nen Eltern nur zwei Mal im Jahr ein Blech Streuselkuchen bekam, aber kein Geld, auch davon machte ich mir keine Vorstellungen.

Aber eben genau die Tatsache, dass ich kein Taschengeld bekam, ließ mich sie betrügen. Ich erzählte ihr, ich müsse meine Brille vom Optiker abholen, die dort zur Reparatur des Gestelles war. Sie war zwar skeptisch und fragte, warum ich denn von zu Hause kein Geld dafür bekommen hätte? Ich log ihr vor, dass ich selbst Schuld gehabt hatte an dem Schaden und deshalb kein Geld bekommen würde.

Oma Thea machte ihr Portemonnaie auf und holte die behauptete Summe heraus, legte sie mir in die Hand und sagte, dass ich mir das aber quittieren lassen müsse.

Ja, quittieren. Die Quittung hatte ich ja schon zu Hause abgegeben. Was jetzt tun ...
Einen Rückzieher wagte ich mich nicht zu machen. Das wäre zu auffällig gewesen, nachdem sie mich um eine Quittung gebeten hatte.

Ich nahm die Tüte, in der die Brille gesteckt hatte, und schrieb mit verfremdeter Handschrift darauf: „bezahlt“ und das Datum. Und diese Tüte händigte ich ihr aus. Sie nahm sie in Empfang, besah sich das Ganze und sagte dann: „Da fehlt ja eine Unterschrift.“ Ich eierte etwas von: „Habe ich nur so gekriegt.“ Sie hielt die Tüte noch etwas in der Hand und sah mich unschlüssig an. Aber sie sagte nichts mehr dazu. Ich auch nicht. Ich schämte mich in Grund und Boden. Das war der Moment, wo ich mir schwor, dass meine eben begonnene kriminelle Karriere hier ihr Ende haben würde.

In der Folge versuchte ich, sie zu umsorgen. Wann immer ich konnte und tatsäch-lich mal Geld hatte, kaufte ich ihr ihren Lieblingskuchen, gedeckten Apfelkuchen mit Schlagsahne, oder Rosinenstuten, den sie gerne aß, sich aber wohl nicht so leisten konnte, denn es gab ihn selten bei ihr. Auch kleine Aufmerksamkeiten brachte ich ihr mit, wenn ich irgendwo gewesen war, wo man nicht üblicherweise hinkam. Vom Geld her habe ich es ihr sicher ein paarmal wiedergegeben. Aber vom Gewissen her bin ich noch nicht entlastet.

Und dabei war sie zu mir immer und in jeder Lage loyal. Ich weiß noch, mein erster Freund, erstaunlicherweise vom Elternhaus genehmigt, vielleicht weil er wie Papa bei der Marine war, als der auf einem Heimaturlaub im Badischen für Nachwuchs gesorgt hatte und deshalb heiraten musste, als er die „Freundschaft“ mit mir aufrechterhalten wollte und mir schrieb, schrieb er an die Anschrift meiner Oma. Und wann immer er schrieb, bekam ich von ihr diesen Brief ungeöffnet als „Nachtisch“ aus der Schürzentasche serviert – und immer mit einem verschwörerischen Schmunzeln. Welche Oma macht sowas schon!

Das macht nur eine allerbeste Freundin.

noé/2015

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