Über spießige Schatten der Vergangenheit und euphorische Konjunktive
Dieses Jahr werde ich Silberne Hochzeit haben. Ich werde im September 300 Monate, 1.304,46 Wochen, 9.131,25 Tage, 219.150 Stunden, 13.149.000 Minuten, 788.940.000 Sekunden und 788.940.000.000 Millisekunden mit meinem Mann verheiratet sein. Je nach Einheit hört es sich mal mehr und mal weniger an. Aber es sind immer 25 Jahre. Und 25 Hochzeitsjahrestage gemeinsam verbracht zu haben, berechtigt dazu, Silberne Hochzeit feiern zu dürfen, wenn man es denn wollte.
Im Stammbuch gibt es eine Übersicht bekannter Hochzeitstage, und dort liegt die Silberne Hochzeit zwischen der Porzellanhochzeit mit 20 Jahren, und der Perlenhochzeit, mit 30 Jahren. Beides sind unbekannte Jahrestage, denen man noch nie eine größere Bedeutung schenkte, die Silberne Hochzeit jedoch war eines der Feste, die die Generation unserer Eltern zumindest, zelebrierte.
Das letzte Mal, als ich Gast einer solchen war, war ich Kind, und für mich zieht allein der Begriff Silberne Hochzeit lange, spießige Spuren hinter sich her. Ich denke an silberne Pappkränze, die mittig die Zahl 25 trugen und Haustüren schmückten, an Dorfgemeinschaftshäuser in den Siebzigern, dunkel und öde, die zum Feiern herhalten mussten, an verkochtes Erbsen- und Möhrengemüse und an fettige, panierte Schnitzel. Ich denke aber auch an meine liebe Tante Luise, der man gegen ihren Willen ein silbernes Diadem in die Haare steckte, und sie somit wie eine in die Jahre gekommene, traurige Prinzessin wirkte. Doch vor allem denke ich an alte, bis uralte kuchenessende Menschen. Es sind also keinesfalls die Erinnerungen, die mich aufgrund dieses Jahrestages innehalten lassen.
Die Silberne Hochzeit wird in unserer Generation überwiegend ignoriert, und eigentlich tendiere auch ich dazu ihn still vorbei ziehen zu lassen, diesen Tag im September, im besten Falle mit Mann und Kindern essen zu gehen. Doch irgendwas trotzt in mir, lässt mich innehalten, macht mich nachdenklich und gleichzeitig ein bisschen euphorisch.
Der Heiratsantrag meines Mannes kam spontan, im verflixten siebten Jahr, an einem warmen Abend im Mai. In unserer damaligen Stamm-Bar mit Küche, achtziger Jahre schick, passierte es. Sitzend, essend, trinkend und redend. Ein bisschen als eingebauter Nebensatz in der Konversation über Alltägliches erreichte mich seine Frage. Jeder, der meinen Mann kennt weiß jetzt, wovon ich schreibe, ist er doch eher einer der ruhigeren, gelasseneren Sorte, neigt mehr zur Unter- als zur Übertreibung, und seine überwiegend leise Stimme animiert sein Gegenüber des Öfteren dazu, sich rückzuversichern, ob er ihn auch richtig versteht. So geht es bis zum heutigen Tage auch mir, aber ich glaube damals, vor 25 Jahren, wollte ich es nicht tun, mich rückversichern. Da war ich über das, was ich verstand, glücklich. Er wirkte über meine Antwort nicht überrascht, daher gehe ich davon aus, dass es kein Missverständnis war. Aufgeklärt habe ich es jedoch nie.
Der Antrag passierte vielleicht aus einer Laune heraus, unsere Hochzeit hingegen aus Liebe. Wir heirateten im September 1993, mein Mann trug sehr zum Ärger seiner Mutter, schwarze Chucks an den Füßen, und einen Stecker im Ohr. Unser Trauzeuge glänzte in einem Guns N‘Roses T-Shirt, und einer der besten Freunde fuhr nach der Trauung unseren alten Strichachter direkt auf den Römer, gefüllt mit Plastikbechern und Sekt. Kurz nach der Trauung fing die Sonne an zu scheinen, lächelnde Freunde und Familie standen um uns herum, Blumen, und japanische Touristen, die immer am Römer stehen, um einen Griff nach der Braut zu wagen, da dies Glück bringen soll. Der blaue Strichachter glänzte im Sonnenlicht, und füllte sich langsam mit Geschenken. Es gibt schöne, leichte Bilder von diesem Moment, auf Fotopapier und in meinem Kopf.
Wir hatten ein wunderbares Hochzeitsfest-Wochenende, mit vielen damaligen Freunden und einen kleinen, engen Familienkreis. Einzelne leben nicht mehr, andere habe ich aus den Augen verloren, manche sind wiedergekommen, einige sind bis heute geblieben. Unsere Gäste waren ein Gemisch aus überwiegend Menschen unseres Alters, jung und frisch und voller Tatendrang. Alles lag noch vor uns, wir waren gespannt, was wird, was das Leben aus uns zaubern würde und wir aus ihm. Denke ich daran zurück, werde ich wehmütig, weil alles noch offen, so beginnend war. Unsere Eltern sahen sich auf unserer Hochzeit zum ersten Mal. Alle waren neugierig aufeinander und voller guter Wünsche für uns, und genau dieses Gefühl trug diese Feier. Genau dieses Gefühl trägt mich, wenn ich an unsere Hochzeit zurück denke.
Würde ich meine Silberne Hochzeit feiern, würde ich es tun, weil ich ein Vierteljahrhundert (ein Vierteljahrhundert klingt wiederum viel) einen Ring trage, in dem der Name eines Menschen graviert ist, den ich bis heute liebe und respektiere, von dem ich zwei wunderbare Kinder bekam, der ein verantwortungsbewusster und liebenswerter Mann und der beste Vater auf Erden ist. Gemeinsam durchlebten wir hohe Höhen und auch tiefe Tiefen, eine Beziehung ist immer auch harte Arbeit. Wir verloren uns auch mal, aber nie zur gleichen Zeit, das war vielleicht unser Glück. Einer von Beiden glaubte immer an uns.
Würde ich meine Silberne Hochzeit feiern, würde ich es aber auch für die tun, die über so viele Jahre blieben, die, die uns damals am Römer mit ihren Blicken anstrahlten und uns so viel Gutes wünschten. Sie sind mit uns gealtert, unsere Gäste, haben genauso viel Leben gelebt wie wir. Wir verbringen bis heute mit einigen von ihnen Jahr um Jahr Silvester, verabreden uns zu stundenlangen, wunderbaren Kneipenabenden, durchtanzten Nächte, sangen gnadenlos laut auf Konzerten mit, durchlebten Schwangerschaften, Geburten und Trennungen, sahen unsere Kinder gemeinsam groß werden, fieberten gemeinsam bei Weltmeisterschaften, schimpften über elitäre Elternabende, verbrachten wunderbare Reisen zusammen, grillten Nächte durch, ich könnte immerfort weiterschreiben. Dass die Liste nicht enden will, macht mich so unvorstellbar dankbar. Heute trösten wir uns, wenn die eigenen Eltern aufgrund ihrer Gebrechlichkeit anfangen zu schwächeln und trauern mit, wenn wir sie zu Grabe tragen. 25 Jahre Leben, in einem kleinen Zyklus, den man sich schuf, einem Nest, dass jetzt aufbricht, weil die Kinder berechtigt beginnen auszufliegen, weil die Eltern wegsterben. Was bleibt, sind Geschwister, die man im besten Falle liebt wie Freunde, und Freunde.
Würde ich meine Silberne Hochzeit feiern, hätte ich gerne ein rauschendes Fest, mit eben diesen Freunden als schmunzelnde Gäste, die torkelnd im Morgengrauen am Horizont verschwinden.
Letztes Wochenende hatte ich 30jähriges Klassentreffen in meiner alten nordhessischen Heimat. Das einzige Pärchen aus dem Klassenverband feierte im März seine Silberne Hochzeit, und auf dem Foto, das sie uns stolz präsentierten, standen sie mit ihren Gästen vor dem Dorfgemeinschaftshaus. Die Eingangstür schmückte ein Kranz mit der Zahl 25, und in dem Haar meiner Klassenkameradin glänzte ein silbernes Diadem.