47

Bild von Weltenbruch
Bibliothek

Ich bin Pfleger bei einer Anstalt unweit meiner Heimatstadt. Wir haben hier alles, Depressive, Schizophrene, Drogenpsychosen, etc. Das volle Programm eben.
Es ist nicht wie in den Horroranstalten, wie man sich das immer vorstellt; also klar gibt’s manchmal Körperverletzung, Selbstverletzung und selten auch Suizidversuche, aber richtig aggressiv sind die alle nicht. Zumindest ist seit rund 50 Jahren niemand mehr gestorben.
Es ist ein großes Gelände, wirklich sehr schön. Alle Wege abzulaufen kostet einen bestimmt fast eine Stunde, es ist wirklich sehr groß.
Es ist keine Privatklinik, dort würde ich auch nicht arbeiten wollen, ich halte nichts von einer Zweiklassenmedizin. Die Klinik lebt von großzügigen Spenden einiger reicher Bewohner und je mehr Spenden reinkommen, desto schöner und größer wird das Gelände und dann kommen mehr Spender und naja, desto mehr Spender kommen, desto größer und schöner wird das Gelände, dann kommen mehr Spender, und so weiter; einfache Rechnung, zumindest erklärte man mir das so.
Das einzige was mich immer wieder verärgert, ist dass viele Verwandte und Freunde die Kranken nicht gut behandeln; sie wissen schon, besuchen sie nur alle paar Wochen, manchmal über Monate gar nicht und fertigen die Kranken ab, bleiben eine Viertelstunde, vielleicht eine halbe Stunde und dann ist das Gewissen beruhigt. Das hält dann wieder ein paar Wochen vor, bis man dann eben wieder kommt.
Klar, ich kann das irgendwo verstehen, dass ist nicht einfach, es kann Menschen auffressen, aber viele fangen auch nach kurzer Zeit an, meist nach nicht mal einem Jahr, Häuser, Grundstücke, Wertsachen zu verkaufen, kriegt man ja immer mit. Entmündigungen und sowas gibt es hier am laufenden Band, viele Kranke werden auch unter Druck gesetzt, zum Beispiel ein Patient hatte ein Haus mit seiner Exfrau, in welchem er wohnte, aber was sie unbedingt verkaufen wollte und dann die Krankheit nutzt, um ihn unter Druck zu setzen.
Natürlich ist es nicht einfach, aber trotzdem, dass wirkt immer so als wäre der Gedanke an Heilung längst aufgegeben, vor allem, wie man sich sicherlich denken kann, ist so ein Verlust des Hauses, selbst wenn man schon einige Zeit nicht darin wohnt, immer eine schlechte Sache für die Gesundheit, die Genesung.
Nicht alle Verwandten sind so, es gibt natürlich auch sehr viele sehr nette Menschen, die die Kranken jede Woche besuchen, mit ihnen sprechen, sich Zeit nehmen und sie versuchen möglichst nicht zu belasten; aber ich denke die unfreundlichen, unangenehmen Menschen bleiben einem wohl immer fester in Erinnerung.
Zum Beispiel eine unserer Patientinnen, Sarah Malin, war stark schizophren und wurde hier vor ein paar Jahren eingeliefert. Armes Ding, quasi keine lebenden Verwandten, nur ein Cousin, der sie aber in den rund 10 Jahren, die sie hier lebte, nur zwei Mal besucht hat. Warum weiß ich nicht, wahrscheinlich musste irgendetwas verkauft werden.
Sarah Malin ist vor ein paar Wochen gestorben. Ihr Herz blieb einfach stehen. Ein Herzinfarkt. Ich kann mich wohl so gut an sie erinnern, weil sie an dem Tag eingeliefert wurde, an dem ich eingestellt wurde. Naja nicht nur das.
Sie war lange Zeit ruhig, ich beaufsichtigte sie häufiger, als ich müsste, nahm mir etwas mehr Zeit für sie als für andere Patienten. Nicht weil sie an meinem ersten Tag eingeliefert wurde und auch nicht aus einer sexuellen Anziehung, was, wie ich anmerken darf, nicht so selten vorkommt, sondern weil sie eigentlich nur Fernsehen schaute und wenn sie gerade nicht Fernsehen schaute, las sie.
Sie war pflegeleicht, vor allem da sie nie ein Wort sprach und dass war eine gute Möglichkeit für mich Pause zu machen. Ihr Tagesablauf war die ersten acht Jahre immer gleich gewesen, morgens um 7 aufstehen, lesen und fernsehen, Mittagessen, spazieren, lesen und fernsehen, Abendessen, lesen und fernsehen, dann ihre erste und einzige Zigarette und dann schlafen. Vielleicht rauchte sie auch heimlich, sie durfte ja raus aufs Gelände ohne Begleitung. Einmal in der Woche vom Gelände sogar herunter, aber das nahm sie selten in Anspruch.
Vor zwei Jahren dann, ich weiß nicht warum, fing sie plötzlich an hysterisch zu werden, hatte Angstzustände, hörte auf zu fernsehen und schrie immer wieder eine Zahl „47“.
Es fing an nachdem sie ein Buch von Thomas Woynich mit dem Namen „Das Ende“ in einem kleinen Buchladen, am Rande der Stadt gekauft hatte. Sie hatte es erst normal gelesen, blätterte dann aber immer öfter hektisch darin herum. Auch als sie ruhiggestellt wurde, las sie immer noch in diesem Buch. Sie schrie nicht mehr, murmelte nur noch ab und zu, immer wieder diese Zahl „47“. Vorher hatte sie gar nicht gesprochen und zu sprechen schien ihr große Kraft zu kosten. Es wurde mit den Monaten immer besser und vor 3 Monaten bekam sie gar keine Beruhigungsmittel mehr. Immer noch das Buch in der Hand. Sie wich allerdings immer öfter vom Tagesablauf ab, bestellte sich ein paar Kleinigkeiten über das Internet, was halt mit dem kleinen Budget möglich war. Sie aß auch viel mehr, nahm recht schnell in der kurzen Zeit zu.
Ich kann mich noch an ihren letzten Tag erinnern, besser an ihren letzten Abend, denn an diesem hatte ich Schicht.
Sie weinte die ganze Zeit und zeigte immer wieder auf die Essenstafel. Es war Pfannkuchentag, aber aufgrund eines Lieferungsfehlers musste der Tag verschoben werden.
„Es tut mir leid; wir haben keine Pfannkuchen, erst morgen wieder. Die haben das falsche geliefert“, sagte einer der Männer an der Essensausgabe und versuchte sie zu beruhigen; er war sichtlich überfordert. Ein Pfleger kam hinzu: „Komm Sarah, es ist doch nicht so schlimm. Morgen wird es dann Pfannkuchen geben, morgen gibt es Pfannkuchen, du musst nicht lang warten. Ist doch alles in Ordnung.“ Doch der Versuch der Beruhigung bewirkte eher das Gegenteil.
Sie weinte so sehr, ich hatte noch nie eine Frau so weinen sehen und immer wieder zeigte sie auf die Tafel, sagte natürlich nichts, denn bis auf die 47 war sie ewig stumm geblieben. Es wirkte wirklich, als hätte ihr Leben davon abgehangen.
Ich beschloss deshalb noch in einem Restaurant Pfannkuchen zu holen, keine Ahnung warum, irgendwie hatte mich das tief berührt, es war anders gewesen, als wenn jemand sonst in Tränen ausbrach, das war viel echter, bedeutender. Doch als ich mit dem verpackten Essen zurückkam und in ihr Zimmer wollte, fand ich sie, tot, Herzinfarkt. An der Wand prangerte eine gemalte 47.
Man gab mir die nächste Woche frei und als ich die Tage wieder kam, händigte mir ein anderer Pfleger das Buch aus. Thomas Woynich, ‚Das Ende‘.
"Warum gibst du mir das?", fragte ich. "Sie hat es dir vererbt. Sarah Malin, du weißt doch." Ich war verwundert und fragte nochmal.
"Ja, sie wollte, dass du das bekommst; siehst du“, sagte der Pfleger und zeigte mir irgendeinen Wisch von einem Notar.
Ich nahm das Buch dann abends mit nach Hause und las mich ein wenig ein. Die Sätze machten oft keinen Sinn, teilweise waren es nur Wortfetzen und ich fragte mich wie jemand so etwas schreiben konnte und vielmehr noch wie jemand so etwas lesen konnte, vielleicht war es irgendein zeitgenössischer, unverständlicher Quatsch, der als besonders intellektuell galt. Ich legte das Buch dann zur Seite, erst mal ohne weiter darüber nachzudenken.

Das ist nun ein paar Wochen her und ich musste, heute als ich mir gerade Pfannkuchen zum Frühstück machte, wieder an Sarah Malin denken, wie sie immer und immer wieder 47 schrie und später die Zahl 47 murmelte; und plötzlich fuhr mir ein seltsamer Gedanke durch den Kopf.
Ich kehrte zurück, packte Stift und Papier und machte mich dann an dem Buch zu schaffen und dann erkannte ich es.
Als ich jedes 47. Zeichen herausschrieb, bildeten sich die Worte: „Sarah Malin stirbt am 5.2.2014 an Herzinfarkt“.
Zitternd legte ich das Buch weg, war verwirrt und tausende Gedanken stolperten kreuz und quer durch meine Gehirnwindungen. Das konnte nicht real sein, das durfte nicht real sein. Dieses Buch konnte unmöglich ihren Tod vorausgesagt haben. Trotz des Schocks packte mich nur wenige Gedanken später eine schreckliche Neugier, eine schreckliche Idee.

Ich muss sagen, ich hatte es längst gefühlt, doch trotzdem traf es mich wie ein Schlag, als ich jedes 48te Zeichen herausschrieb.

Video:

Hörbuchversion von 47

Mehr von Daniel G. Spieker lesen

Interne Verweise