Feueraugen III - Page 2

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wieder in eine neue Welt eingetreten", meint Zeramov. "Die Treppe hat mich schon so was ahnen lassen. Beim ersten Mal gelangten wir ungefähr ins dreizehnte oder vierzehnte Jahrhundert zurück - ohne das genau festzulegen freilich. Diesmal scheint der Sprung etwas größer gewesen zu sein!"

"Glaube ich nicht!"

X möchte seine Meinung ausführlicher darlegen, aber erneut setzt Musik ein und alle stehen wie erstarrt.

"Geht das wieder los?" Ricci bricht der Schweiß aus.

Diesmal ist es aber kein anschwellender, dissonanter Akkord, sondern kräftiger Gesang, der von mächtigen Orchesterstößen untermalt wird.

"Seltsame Musik!", stellt Marlène fest, als es sicher scheint, dass der unerträgliche Krach ein einmaliges Erlebnis bleiben soll - wie es jetzt aussieht. "Noch nie gehört!"

"Ja ... sogar der Janáček hat uns verlassen!", erkennt Emma.

Der Gesang ist jetzt deutlich zu hören - das begleitende Orchester hat beachtliches Volumen, spielt aber sehr verhalten. Dennoch gibt es auch hier ein Crescendo.

"Könnte fast von einem Zeitgenossen Bruckners oder Mahlers sein", findet Marlène, die sich in der Musikgeschichte sehr gut auskennt.

"Hören sie auf die Worte des Chors, Mademoiselle Lableue!", rät X. "Lateinisch ... sie singen einen lateinischen Text!"

"Kommt mir bekannt vor ... nicht die Musik, der Text, meine ich!" Zeramov lauscht angestrengt. Da die Musik immer näher zu kommen scheint, können sie endlich den Text verfolgen.

"Was singen sie da? - 'Dies Illa?'"

Im Nebel tauchen jetzt die ersten Gestalten einer gewaltigen Menschenmenge auf, die kurze Zeit später in endloser Reihe an ihnen vorüberziehen soll. Es sind in schwarze Umhänge gekleidete Frauen und Männer. Manche tragen schwarze Kreuze, andere schwarze Fahnen und alle singen. Das imaginäre Orchester hat ein gewaltiges Klangvolumen erreicht. Ein bedrückender, dumpfer Marsch wird gespielt und die Menschen singen in lang gezogenen Klagelauten.

"Sie singen den Text einer Messe ... irgend so ein geistliches Werk!", findet Emma heraus. "Früher in der Kirch' hab' ich dös schon amal g'hört!"

"Ja, was singen sie denn? - Ruski, sie sind doch so ein Musiknarr!" Rodolphe hält nichts von klassischer Musik, aber als Zeramov jetzt antwortet, findet er es gut, dass nicht alle sind wie er selbst.

"Das ist zweifellos der Text der Totenmesse!", sagt der Schreiber. "Sie singen das 'Dies Irae'!"

"Ich kenne keinen Komponisten, der solch eine Totenmesse geschrieben haben könnte!"

"Ich auch nicht, Chef!" Zeramov ist beeindruckt von dieser wuchtigen, gewaltigen Musik.

Ein schrecklicher Donner kracht im nächsten Moment, es wird mit einem Mal finster und dann erhellen Blitze in rascher Folge die gespenstische Prozession. Der erwartete Regen bleibt aus, doch mit einem Mal bricht das Orchester aus voller Kraft hervor. Ein Gewitter tobt mit ungeahnter Gewalt - fantastisch, erschreckend und bedrohend - vergleichbar mit nichts, was sie bisher erlebt hätten.

Immer wieder erhellen Blitze die Vorüberziehenden und fügen sich dabei zusammen mit Donnerschlägen genau in den wuchtigen Marschrhythmus ein.

Gerade endet eine grandiose Fuge, während der sie kein gesungenes Wort verstehen haben können. Nach einer mächtigen Posaunenfanfare stimmen die ersten Sänger wieder den Choral an - die Beginnstrophe des liturgischen Dies Irae. Von ergreifendem musikalischem Gehalt ist die Melodie und das kunstvolle Zusammenspiel zwischen Orchester und Sängern bringt den Text voll zur Entfaltung.

Ein Requiem - ein Requiem im erschreckendsten und machtvollsten Teil - in der Sequenz, die vom Jüngsten Tag erzählt:

1) Sämtliche Textübersetzungen finden sich im Anhang

'Dies irae, dies illa

Solvet saeclum in favilla;

Teste David cum Sibylla.

 

Quantus tremor est futurus,

Quando judex est venturus,

Cuncta stricte discussurus.

 

Tuba mirum spargens sonum,

Per sepulcra regionum,

Coget omnes ante thronum.

 

Mors stupebit et natura,

Cum resurget creatura,

Judicanti responsura.

 

Liber scriptus proferetur,

In quo totum pontinetur,

Unde mundus judicetur.

 

Judex ergo cum sedebit,

quidquid latet, apparebit:

Nil in ultum remanebit!'

 

Mit jedem Vers haben sich mehr Sänger dem Chor angeschlossen und beim dritten sind es bereits so viele gewesen, dass man kaum noch ein deutliches Wort hätte verstehen können.

Marlène und Zeramov kennen den Text jedoch auswendig und ergriffen singen sie mit.

"Schauderhaft!", entfährt es Dr. Glücklich, als die Sänger eine kunstvolle Quadrupelfuge in Angriff nehmen.

"Großartige Musik!", meint Baldwin hingegen. "Wenn man nur ein Tonband hätte! Für einen Film wäre das die Musik. Noch nicht einmal mit der GEMA bräuchte man verhandeln!"

"Auf jeden Fall passt der Text wunderbar hierher!" Michels Stimme klingt matt und resigniert. X hat ihm den lateinischen Wortlaut übersetzt und jetzt glaubt er, begriffen zu haben. "Besser könnte man uns nicht klar machen, dass wir gestorben sind."

"Wie? Was sagen sie da?" Der Signore dreht sich entrüstet nach Michel um. "Bin ich vielleicht tot?"

"Wir sind alle tot!", jammert Michel - seine Stimme wird lauter. "Wir sind im Reich der Toten! Wir sind alle in Destrusion gestorben und haben uns die erfolgreiche Befreiung nur eingebildet!"

"Was? Was soll der Unsinn?", schreit Ricci jetzt auf.

"Verstehen Sie denn den Text nicht? Die marschieren zum Höchsten Gericht. Es ist der Jüngste Tag und der Allmächtige wird sie richten! Oh, mon dieu ... pitié‚ ... je n'ai rien fait de mal ..."

"Verdammt! - Halt's Maul!", herrscht Rodolphe ihn an. "Weg hier ... sonst bricht uns der Jammerlappen noch zusammen."

"Rodolphe hat recht. Ich seh' ihn schon die Nerven verlieren und mit diesen Leuten mitmarschieren. Kommt, Kinder ... weg hier!"

"Ja, weg hier! Ich will diese Musik nicht mehr hören. Ich halte das nicht aus, Monsieur Baldwin!", winselt Michel und rennt hinter Rodolphe her.

Sie entfernen sich zwar nur langsam von der Prozession, aber nach einer gewissen Zeit hören sie die Musik nicht mehr. Atemlos bleiben sie stehen und gönnen sich eine Rast.

Sie haben ein freies Feld erreicht. Die Freude über ein bisschen flauschigen Nebel und ganz normale grau gesprenkelte Felsbrocken erklärt sich nur dadurch, dass sie sich hier wenigstens dem gegenübergestellt sehen, was sie kennen.

Die nächste Überraschung nähert sich ihnen aber bereits.

Zeramov und Rodolphe bemerken in der Ferne zwei Punkte, die sich bewegen und rasch größer werden. Der Nebel hängt nicht mehr allzu dicht über dem Boden - was ihnen ermöglicht, eventuelle Gefahr frühzeitig zu erkennen.

"Das klingt wie ein Motor!"

"Ja, würde ich auch sagen. Wie 'ne Honda Gold-Wing!" Rodolphe nickt dem Teamkollegen zu.

"Aber wo ist denn hier eine Straße? - Die können doch nicht über dieses Geröll fahren!", meint Zeramov.

Rasch stellt sich heraus, dass die beiden Punkte Luftkissenfahrzeuge sind. Einen viertel Meter über dem Geröll schweben sie brummend und surrend auf die Baldwinschen zu und werden kurz vor ihnen angehalten.

Zwei Herren in silbrig glitzernden Anzügen entsteigen dem einen Gefährt, zwei reichlich geschminkte Damen in aufreizenden Kostümen aus einem golden glänzenden Material dem anderen. Alle vier tragen bauschige, grasgrüne Perücken.

"Hi, Fans!", ruft eine der Damen und winkt.

Baldwins Leute trauen ihren Augen nicht mehr.

"Entschuldigt, liebe Leut' ... wir wollten nur fragen, ob ihr vielleicht zufällig wisst, wo hier eine Reparaturwerkstatt ist. Mein Wagen hat einen Schaden im Getriebe und das muss ich nachsehen lassen."

Der eine Herr ist an Zeramov herangetreten.

'Sieht aus wie eine lebendige Plastikpuppe ... täuschend echt nachgebildet!', denkt der sich und erwidert: "Entschuldigen sie mal. Wie kommen sie denn darauf, dass hier eine Reparaturwerkstatt sein könnte?"

"Ja, wie soll man das begründen?" Der Herr überlegt. "Was sagen sie denn dazu, verehrter Herr Generaldirektorpräsidentstellvertreter?" Damit spricht er den anderen Herrn an.

"Begründen kann man das nur schlecht, Herr Generaldirektorpräsidentsekretär. Ich nehme aber an, dass die anderen hier langgekommen sind. Wie sie ja vielleicht wissen, wagt sich der Generaldirektorpräsident nie in Gegenden, wo es keine Werkstätten gibt, in denen er sich auf den Kundendienst seiner Firma verlassen könnte. Nur leider ...," jetzt wendet er sich an Rodolphe, "... leider haben wir die anderen verloren. Und wir kennen uns hier nicht aus. Ihr habt nicht zufällig drei solche Wagen wie die unseren irgendwo gesehen?"

"Nein!", antwortet Rodolphe. Er hat seinen Helm nicht aufgeklappt und daher klingt seine Stimme seltsam hohl.

"Aber ... da vorne haben wir einen Wikinger getroffen, der seine Mannen sucht. Außerdem eine Menge Dies-Irae-Sänger. Am besten nehmen sie den gleichen Weg. Irgendwo werden sie dann wohl alle finden, was sie suchen", schlägt Zeramov vor und weist in die Richtung, aus der sie gekommen sind.

"Das ist überaus freundlich! Wir werden es in dieser Richtung versuchen. Innigst empfundenen Dank, werter Herr."

Die beiden Herren und ihre Damen besteigen die Wagen wieder und brummend entfernen sich die schwebenden Fahrzeuge.

"Jeglicher Kommentar ... überflüssig!", erklärt Zeramov. "Wir sollten weitergeh'n! Wer weiß, was uns noch bevorsteht!"

Lange brauchen sie nicht auf die nächste Überraschung zu warten.

Sie haben eben eine sehr dichte Nebelwand hinter sich gebracht, da treffen sie auf eine große Menschenmenge.

"Was ist denn hier wieder los?" Baldwin richtet seine Frage an niemanden.

Vor ihnen bietet sich eine faszinierende Szenerie, die sie hier ganz bestimmt nicht erwartet haben.

Sie stehen vor einer ausgedehnten Ebene, die mit kurzen, saftig-grünen Gräsern und leuchtend gelb blühenden Wildblumen bewachsen ist. Die umliegenden Berge haben nichts mehr Schroffes und Abweisendes an sich. Bewaldete Hänge können sie ausmachen - nur die Gipfel zeigen nackten Fels. Der Himmel ist strahlend blau und eine angenehme Wärme -wie im Frühherbst- ist zu verspüren, obwohl sie keine Sonne am Firmament entdecken können. Auf der blühenden Wiese knien in braune Kutten gekleidete Gestalten. Sie sehen nach vorne zu einem Mann, der einen weiten, weißen Umhang trägt. Er steht auf einer sanften Anhöhe vor einer Art Altar. Eben hebt er die Arme hoch über den Kopf, da falten die Menschen ihre Hände wie zum Gebet.

Die Baldwinschen verfolgen nun eine Andacht.

Der Mann am Altar spricht zwar kein Wort, aber die Knienden bewegen alle ihre Lippen. Ganz leise setzt schließlich Musik ein und eine einzelne Stimme beginnt zu singen.

"Das kenne ich gut!", flüstert Marlène ihrer Nachbarin Dalia zu.

"Was ist es?", erkundigt sich X, der hinter ihnen steht.

"Das 'Te Deum' von Bruckner ... ganz im Original!" Marlène stellt fest, dass die Komposition völlig im unveränderten Zustand belassen worden ist und das beunruhigt sie alle.

"Da, Chef ... da ist es wieder!"

"Was denn, Alexej?"

"Das Zeichen!", erklärt der Schreiber Baldwin. "Ein Oben, ein Unten und ein unklares, verschwommenes Dazwischen."

Auf dem Altar ist es zu sehen: das dreieckige Blechschild mit dem Auge und der Flamme in der Mitte. Es 'steht' tatsächlich - auf einem Eck, die eine Dreiecksseite senkrecht in die Höhe - und kippt doch nicht um. Da beginnt sich das Schild zu drehen, die Rotation wird immer schneller und schließlich sieht es aus wie ein Kreisel ... spiegelt sich dabei und wird endlich zu einer sich unvorstellbar rasch drehenden, auf den Kopf gestellten Raute. Zeramov erinnert sich an den Meilenstein mit der Zahl '0'!

"Verwunderlich, dass man das Auge noch immer erkennen kann!", sagt X.

"Ja! Irgendetwas ist da, was wir vielleicht nie ganz verstehen werden. Aber ich war in meinen Ausführungen nah am Kern der Sache!" Zeramov überlegt angestrengt. Aber ein Zusammenhang zwischen diesem Zeichen auf dem Altar und Schloss Rachass fällt ihm nicht auf.

"Es ist Bruckner ... unverändert ... aber blockiert!", erklärt Marlène gerade. "Wie?" X hat nicht zugehört.

"Sie singen das Original ... aber bleiben doch an einer Zeile des Texts hängen."

 

2) Sämtliche Textübersetzungen im Anhang

'Salvum fac populum tuum, Domine!'

 

"Bruckner, sagen sie?" erkundigt sich der Signore.

"Ja!"

"Erstaunlich! - Erst jemand, der irgendwen sucht, dann geistliche Musik!"

Diese Feststellung des Signore beschäftigt die anderen.

Plötzlich braust ein schrilles Orchesterfortissimo auf und im nächsten Moment wandelt sich diese friedliche Szene. Die Andächtigen sind mit einem Mal verschwunden - und mit ihnen der Mann im weißen Umhang. Die Gräser welken in Sekundenschnelle und werden aschgrau - die Blüten schwarz ... wie verbrannt! Am Himmel entstehen wie aus dem Nichts gewaltige, dunkle Gewitterwolken und aus dem Boden steigt dichter Nebel auf.

"Weg hier ... weg! Monsieur Baldwin, ich flehe sie an ... weg von hier. Ich habe Angst!", wimmert Michel.

Baldwin kommt zu keiner Antwort. Der Nebel verdichtet sich so rasend schnell, dass es erschreckend ist. Zugleich bricht Dunkelheit über sie herein. Eine einzige, nicht genau bestimmbare Lichtquelle bleibt und diese reicht aus, einen fahlen Schein auf den Altar zu werfen, auf dem die rotierende Raute rot leuchtend flackert.

"Das ist unfassbar!", schreit der Krämer auf. "Warum ist das denn nicht verschwunden?"

"Ich glaube nicht, dass wir dieser Tatsache Bedeutung beimessen sollten. Hier erscheint mir alles reichlich nebensächlich. Überhaupt: Warum haben wir das Schloss noch nicht gesehen? Wo ist es?" X wird unruhig.

"Ja, wo?", fragt auch Marlène.

In diesem Augenblick schreit Emma laut auf und deutet hoch über sich.

"Da ... das Schloss!"

Ein furchtbarer Blitz schlägt ganz dicht bei ihnen ein und bevor man sich um die Entdeckung ihres Zieles kümmern kann, beginnt sich die ganze Landschaft zu wandeln. Die Erde bricht auf, Dämpfe entsteigen dem Erdinneren und die Nebel färben sich erst rot, dann grün und endlich gelb.

"Los! Mir nach!", schreit Rodolphe. Widerspruchslos folgen sie ihm.

Es ist eine sinnlose Flucht ins Leere. Die Erde spielt verrückt, und während rings um sie alles absinkt und an anderer Stelle plötzlich Berge aus der Tiefe herausschießen, rennen sie auf schwankendem Boden ziellos davon.

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