Besuch bei Oma

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Als ich durch das Tor gehe, das nur noch halb in den Angeln hängt und den Garten hinter den hohen Mauern sehe, setzt mein Herz einen Schlag aus. Alles ist verwildert. Meine Großmutter lässt alles verkommen. Nachdem mein Großvater gestorben ist, und wir uns auf der Beerdigung gesehen haben, ist mir klargeworden, dass ich mich bald um sie kümmern werden muss – wer sonst? Ich weiß nicht mal wie sie es geschafft, die Beerdigung zu organisieren, vielleicht hatten sie längst einen Vertrag für so einen Fall gehabt. Der zweite Todesfall innerhalb eines Jahres – erst meine Mutter, dann Opa.
Und jetzt bin ich hier. Drei Wochen Urlaub um alles zu regeln. Mein Chef hat mir zum Glück freigegeben, obwohl es gerade nicht einfach im Büro ist. Zu viele Kunden, zu wenig Leute. Meine Frau sitzt hochschwanger zuhause. Hoffentlich wird das Kind nicht früher kommen. Noch mehr Probleme kann ich gerade nicht gebrauchen. Halt dich an deinen Termin, denke ich und grinse.
An der Tür klingele ich und warte. Nach ein paar Sekunden höre ich Schritte und Oma macht die Tür auf. Im Nachthemd. Es ist sechzehn Uhr.
„Hallo Mortimer – wie war die Fahrt?“
„Gut, Oma.“
Wir umarmen uns. Sie ist dürr, fast nur noch Haut und Knochen.
„Ich dachte, du kommst erst heute Nachmittag, deswegen hab ich mich noch nicht umgezogen.“
Einen Augenblick stutze ich, doch dann lächle ich und nicke.
„War wenig Verkehr deswegen bin ich schon jetzt schon da.“
„In Ordnung, ich zieh mich mal um, setz dich einfach schonmal ins Wohnzimmer – ich mach gleich Kaffee.“
Sie steigt die Treppe nach oben und ich sehe mich um, schaue zumindest, in was für einem Zustand das Erdgeschoss ist. In der Küche stapelt sich Geschirr, Dokumente liegen herum. Es ist nicht wirklich unordentlich, aber kein Vergleich zu früher – früher war alles aufgeräumt, alles sauber. Im Kühlschrank ist fast nur Joghurt. Sonst nur eine angefangene Packung Bratheringe. Angewidert verziehe ich das Gesicht. Morgen muss ich auf jeden Fall einkaufen. Das wird fast zwei Stunden dauern; hier in der Nähe ist nur Wald, keine anderen Häuser. Es ist sehr abgelegen.
Mein Handy klingelt und ich gehe kurz ran. Meine Frau; wir reden nicht lang, nur wie die Fahrt war und wie es ihr geht. Ich bin dankbar für ihr Verständnis, aber ich merke, dass sie Angst hat. „Ich bin bald wieder da.“ Ich lege auf und kurz darauf kommt auch schon Oma runter.
„Kaffee?“
„Gern.“

Wir sitzen am kalten Kamin, über dem noch immer Opas altes Gewehr hängt, und trinken zusammen eine Tasse Kaffee. Hätte man es nicht abgeben müssen? Wir reden nicht viel, aber Großmutter scheint sich trotzdem zu freuen, dass ich da bin. Es ist gut. Irgendwann geht sie nach oben und ich bleibe allein zurück. Es ist unglaublich still hier. Nur draußen vom Wald seltsame Geräusche, aber das war schon immer so. Ich nehme den letzten bitteren kalten Schluck und steige dann die Treppe ebenfalls nach oben, in das Gästezimmer. Als ich das Licht anmache, sehe ich, dass Oma sich fast gar nicht auf mich vorbereitet hat. Die Bettwäsche liegt zwar da, aber es ist nichts bezogen oder sonstiges. Es hat sich viel geändert. Sehr viel.
Ich stelle mich ans Fenster und sehe raus in den dunklen Wald. Als ich klein war, durfte ich immer nur am Rand spielen, damit ich nicht verloren ging. Eines Nachts hatte ich gesehen, wie Oma eines nachts in den Wald gegangen war, daran erinnere ich mich noch. Ich hatte nicht schlafen können und das Fenster einen Spalt aufgemacht. Seltsame Geräusche, immer und immer wieder. Schließlich hab ich Opa geweckt und gesagt, dass Oma im Wald ist; damals ging ich irgendwie davon aus, dass das Verbot, das für mich galt, auch für andere oder so galt.
Ich weiß noch, wie Opa sich aufgesetzt hat und gesagt hat, dass Oma im Wald gegen Monster kämpft. Mein Vater hat mich irgendwann aufgeklärt, dass sie ab und an nachdem Hochsitz sehen musste, weil sich dort immer wieder Jugendliche trafen. Opa war Förster, deswegen wohnten sie auch so nah am Wald, aber sie unterstützte ihn, wo es nur ging. Das Haus gehörte aber nicht zu der Arbeit, sonst hätten sie es nachdem Opa in Rente gegangen war, längst abgeben müssen. Irgendwann würde das mir gehören. Was wäre es wohl wert? 100000 Euro? 150000? Auch heute mache ich das Fenster einen Spalt auf.
Ich beziehe das Bett und lege mich dann hin. Es ist so unfassbar ruhig. In der Stadt hört man immer Autos, immer irgendwen, Besoffene auf der Straße, ab und an Sirenen und hier einfach nichts. Nur die Geräusche des Waldes. Wenige Tiere, aber vor allem das Rauschen des Waldes im Wind.

Am nächsten Morgen sehe ich zuerst nach Oma, aber sie schläft noch, also entscheide ich direkt in die Stadt zu fahren und lasse ihr einen Zettel da. Sie muss endlich wieder etwas Richtiges essen.
Die Fahrt ist langweilig, nur hier und da ein Reh, dass ich umfahren muss. Ich habe das Gefühl, dass diese Straße nur für meine Großeltern gebaut wurde.
Als ich endlich aus dem Wald raus bin, prasseln Geräusche auf mich ein, bald schon erreiche ich die Kleinstadt und den Lärm dieser. Ich halte beim Supermarkt und kaufe alles ein, was wir möglicherweise brauchen könnten, Nudeln, Kartoffeln, Cola, Wasser, Gemüse, Obst, Eingelegtes. Genug um ein paar Wochen zu überleben. Definitiv muss ich sie bald in ein Pflegeheim bringen oder einen Pfleger herholen, auch wenn ich mich nicht wohl bei Letzterem fühlen würde. Die Treppen und alles.
Nachdem alles im Kofferraum verstaut ist, fahre ich zurück. Ich sehe, dass sich ein paar Leute zu mir umdrehen, als ich in Richtung des Waldes fahre. Wahrscheinlich nutzt die Straße sonst wirklich niemand.
Am Haus angekommen, schreibe ich Lana erstmal eine SMS und steige dann erst aus, packe die ersten zwei Tüten und trage sie herein. Oma ist schon wach und steht in Nachthemd in der Küche.
„Hallo, Oma, gut geschlafen?“
„Oh, Mortimer, ich dachte, du kommst erst am Nachmittag.“
Ich sage nichts, sondern räume die Einkäufe in den Kühlschrank.
„Ich koch später für dich.“
„Das ist lieb, ich werd mich noch für ein paar Stunden hinlegen. War die Fahrt denn

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