Der Fall

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„Haben wieder einen Hinweis, grad am Telefon.“ Ich runzelte die Stirn. „Kannst du das übernehmen, Karl? Muss los – meine Frau wartet schon.“
„Ja, ja, wenn's sein muss“, murmelte ich und nahm den Telefonhörer entgegen.
„Danke, hast was gut bei mir.“
Ich nickte nur und wendete mich dem Anrufer zu. „Guten Tag, Sie haben einen Hinweis zum Fall des Kindermörders?“
„Ja – ich habe den Typen gesehen!“ Die Frau am Telefon wirkte etwas hysterisch und begann mit einem Monolog. „In der Straße, war gerade gegen 3 Uhr nachts, läuft da dieser Kerl rum! Ich bin mir sicher, dass er es war.“
„Haben sie eine konkretere Beschreibung?“ „Er war so durchschnittlich groß und hatte so eine normale Statur.“ „Das ist nicht besonders genau.“ „Ich hab ihn gesehen, er war es, ich bin mir sicher!“ Schnell stellte sich heraus, dass es wieder nichts Stichhaltiges war.
Seit Wochen war das ganze Präsidium in Aufruhr. Überall ging es nur noch um den verschwundenen Jungen. Aber wirklich weiter kam die Abteilung nicht.
Ich verabschiedete mich von der Frau und legte auf. Es gab immer wieder irgendwelche Leute, die meinten irgendetwas gehört, gesehen oder vielleicht telepathisch erfahren zu haben. Keine Ahnung, woher all die falschen Informationen kommen. Einen richtigen Zeugen zu finden ist ein Haufen Arbeit und – vor allem – kommt dann der Papierkram ins Spiel.
So viel verdammter Papierkram, denn selbst jede falsche Information musste gesammelt, notiert, verwahrt werden.
Ich wollte einfach nur nach Hause, etwas essen, Mails checken, Flöte üben oder am Fernseher sitzen – das Übliche eben. Hauptsache den Kopf freibekommen. Aber vor mir lag noch dieser verdammte Stapel.
Der Junge war gerade einmal acht Jahre alt. Ein Augenzeuge hatte berichtet, ihn vielleicht noch vor der Sporthalle gesehen zu haben – sicher war dies allerdings nicht, dennoch – im Sportunterricht soll man ihn wohl zum letzten Mal gesehen haben.
Ein paar Verhöre, ein paar Gespräche und ständige Anrufe waren die Folge des Verschwindens. Es war eine Kleinstadt, jeder Polizist wurde auf die Ermittlungen angesprochen, jeder wollte irgendwie helfen, aber raus kamen nur ein unendlich großer Haufen Falschmeldungen. Wieder ein Anruf, diesmal wieder ein Zeuge. „Guten Abend, ich habe ihn gesehen, ich habe...“ „Guten Abend, Sie haben einen Hinweis zu...“ Aufgelegt. Ich schüttelte den Kopf, runzelte wieder die Stirn.
Es war schon spät als ich endlich den Papierkram erledigt hatte, das Gebäude verließ und zum Bahnhof lief. Die Nacht war schwül und ich war froh den ganzen Dreck hinter mir zu lassen, als ich in die Bahn stieg und zu meiner Haltestelle fuhr. „Nächster Halt Weidembach Hauptbahnhof. Der Ausstieg befindet sich in Fahrtrichtung rechts“. Ich war da. Mein Haus war keine zwei Minuten von der Station entfernt.
Zuhause setzte ich mich erst vor den Fernseher, entschied mich aber dann aber etwas Flöte zu spielen. Eilig packte ich das weiße Ding und spielte ein paar Töne. Ein tiefer, warmer Klang – ich entschied mich ein weiteres Mal March Funebre zu spielen.
Genervt dachte ich noch einmal an den Zeugen, der heute angerufen hatte, während ich zu dem Jungen blickte, der leblos, auf einem Tisch präpariert, dalag. Der Zeuge würde noch einmal anrufen. Es würde schwer werden diesmal, er hatte meine Stimme erkannt, sonst hätte er nicht aufgelegt.
Ich würde die Leiche des Jungen noch in den nächsten Stunden zur Sicherheit auflösen müssen – aber vorher wollte ich mir eine weitere Flöte machen.
Der Oberschenkelknochen sah einfach perfekt dafür aus.

Video:

Hörbuchversion von Der Fall

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