Es war eine scheiß Idee gewesen. Aber versprochen war versprochen. Ich entsicherte die Sperre. "Danke nochmal", meinte Dirk und huschte mit mir in den Raum. Routiniert schritt ich auf die Wand zu, drückte ein Knöpfe und die Kapseln wurden beleuchtet. Ich fühlte mich unbehaglich, aber ich hatte mich breitschlagen lassen - natürlich. Seit Jahren war Dirk auf der Suche nach seinem Vater, der vor seiner Geburt gestorben war. Seine Mutter war von Krise zu Krise gestolpert und er wollte eine Antwort darauf, warum seine Kindheit so verlaufen war, wie sie verlaufen war. Und ich war sein Freund und eben auch Mitarbeiter bei einem Zeitreiseunternehmen. In der Regel gab es spezielle Führungen, um auf keinen Fall irgendetwas am Zeitverlauf zu verändern und die Zeitreiseunternehmen wurde stark überwacht. Nur heute nicht. Heute waren Wartungsarbeiten in einem anderen Teil im Gebäude - ich hatte es selbst nur nebenbei erfahren. Hätte ich es nur nicht erwähnt. Ich schritt auf eine der Kapseln zu und tippte auf den Display ein paar Daten ein, nachdem ich es im Testmodus gestartet hatte. Normalerweise schickte man damit nur einen winzigen Kieselstein irgendwohin und überwachte dessen Daten, aber diesmal eben mehr. "2021, ja?", fragte ich und Dirk nickte. Ein Jahr vor Dirks Geburt. Ich setzte die Zeit auf den Sommer und stellte den Ort ein. Danach ging ich zur nächsten Kapsel und wiederholte den Vorgang. "Ok, dann pack mal deinen ganzen Technikkram aus." „Alles?“ „Ja, alles.“ Das Standardprozedere. Dirk legte sein Smarterphone, seine Uhr und anderen Elektrokleinkram auf den bereitliegenden Tisch. Ich tat es ihm gleich. "Ok - bist du dir sicher? Du wirst ihn nicht ansprechen dürfen, nicht einmal sehen darf er dich. Du darfst ihn nur aus der Ferne beobachten." Dirk nickte. Aus einer Schublade nahm ich zwei Armbänder und legte eines Dirk und das andere mir selbst um. "Stell dich in die linke Kapsel." Dirk folgte der Anweisung. Ich schloss die Kapsel und drückte auf einen Knopf außen. Der Prozess dauerte einige Minuten, aber dann war Dirk verschwunden. Ich stellte mich in die andere Kapsel und startete sie mit einem Spezialbefehl von innen. Was eine scheiß Idee, dachte ich, als der Prozess einsetzte.
Es war jedes Mal ein befremdlich es Gefühl, wenn ich in der neuen Zeit ankam. Das Armband blinkte erst orange, dann grün. Alles in Ordnung also. Es war nicht nur zur Absicherung der Leute gedacht, sondern vor allem zur Absicherung des Zeitverlaufs, denn wenn es mal wirklich eine Fehllandung gab, wurde der Armbandträger beendet. Bis heute wusste ich nicht, wie das vonstatten ging (und eigentlich wollte ich es auch gar nicht wissen). Ich war in einem Wald angelangt. Einige Augenblicke erholte ich mich noch von der Reise, dann sah ich mich kurz um und konnte schließlich Dirk ausmachen. "Also, wo hat sie nochmal gewohnt?" "Bukowskistraße 2." Laut dem Plan wären wir keine 20 Minuten davon entfernt - es war eine Vorstadt, eine der ärmlichen. Dirk war, soweit er erzählt hatte, die ersten fünf Jahre seines Lebens aufgewachsen und dann weggezogen. Dass aus ihm mal ein erfolgreicher Anwalt werden würde, ging gegen die Statistik, aber so war das eben.
Wir schritten aus dem Waldstück heraus und erreichten bald die Endpunkte der Kleinstadt. Fabrikschlote pumpten unaufhörlich ihren Dreck in die Atmosphäre, an jeder Ecke rauchten Leute in Eckkneipen. Es wurde wohl gerade Feierabend. Drei Jahre würden sie noch rauchen, dachte ich; eines der vielen Dinge, die abgeschafft worden waren. Wir schlängelten uns über den Bürgersteig und versuchten möglichst niemanden zu berühren oder anzusehen; ich hatte Dirk diesbezüglich mehr als einmal instruiert. Auch wenn die Parrallelweltzeitentheorie längst widerlegt war und klar war, dass die Zeit sich irgendwie immer korrigierte, wollte man kein Risiko eingehen.
Wir kamen nach weiteren fünf Minuten bei besagter Straße an und fingen an die Straßen abzuwandern, während wir den Hauseingang beobachteten. Es dauerte einige Zeit lang, bis eine Frau heraustrat, allein. Sie war wohl Dirks Mutter, denn ich bemerkte seine plötzliche Anspannung. Ein Mann tauchte allerdings nicht auf. Auch eine Stunde später nicht. "Wir sollten zurück", sagte ich. "Nur noch kurz - nur ein paar Minuten", meinte Dirk. Ich nickte. Nachdem wir die Straße noch einmal abwandert waren und an dem Haus vorbeikamen, warf ich einen Blick auf das Klingelschild. Da war nur ein Nachname. "Waren deine Eltern je verheiratet?", fragte ich, als wir etwas weiter waren. "Nein." "Du trägst den Namen deiner Mutter?" "Ja, warum?" "Egal." Irgendein One-Night-Stand, dachte ich. "Wir müssen zurück." Dirk wirkte betrübt, aber willigte ein. Wir gingen in eine Seitengasse und ich drückte an den beiden Armbändern herum. Wenige Augenblicke später setzte die Reise ein.
Als wir wieder in unserer Zeit angekommen waren, entschied ich mich, dass ich es Dirk sagen musste. "Keine Ahnung Dirk, ich glaube das hat keinen Zweck, ich denke, dass deine Mutter keine Beziehung mit deinem Vater geführt hat. Vielleicht ein One-Night-Stand oder so etwas." Dirk war erst etwas irritiert, aber fragte dann nach. Knapp erklärte ich die Anhaltspunkte und Dirk stimmte irgendwann zu. "Ich will es trotzdem wissen. Ich weiß, wann ich gezeugt wurde, ich habe einmal einen Test machen lassen." Das Verfahren war nichts besonderes, aber nur wenige Leute nahmen es in Anspruch. Ich war etwas verwundert. Hatte Dirk das selbst in Betracht gezogen? Ich fragte nicht. "Wie gesagt - ich hab das Datum. Können wir's probieren? Ich muss wissen, wer mein Vater ist." Ich wiegte den Kopf und überlegte. "Bitte", fügte Dirk hinzu. Ich nickte. "Was glaubst du wo?" "Ich denke in der Gegend - versuchen wir's, wir folgen meiner Mutter einfach." Das wurde langsam zu viel für mich, aber ich stimmte zu. Keine fünf Minuten später standen wir wieder in den Kapseln. Ein paar Monate später; dieselbe Stadt. Es hatte sich nicht viel geändert. Ich meinte zwar noch mehr Fabrikschlote entdecken zu können, sicher war ich aber nicht. Letzten Endes wollte ich es auch nur hinter sich bringen. Schnell und effizient. Vielleicht wäre die Angelegenheit, dann endlich für ihn abgeschlossen; sicher nicht für Dirk - da würde es wahrscheinlich erst richtig losgehen.
Wir warteten auf derselben Straße, gingen auf und ab und die Stunden verstrichen. Mir war langweilig und gleichzeitig fühlte ich mich unter Druck. Dieses ewige Warten. Es wurde langsam dunkel. Schließlich sahen wir Dirks Mutter aus der Tür herauskommen. Eine dickliche, junge Frau. Wir folgten ihr mit Abstand. Sie verschwand in einem Laden, wir warteten draußen und rauchten, simulierten ein Gespräch. Sie kam wieder heraus mit einer Einkaufstüte. Hinter ihr wurde der Laden dichtgemacht – sie war wohl kurz vor knapp noch dort gewesen. Sie ging erst in Richtung ihrer Wohnung, doch dann bog sie in eine Seitengasse, die nur trüb erleuchtet wurde. Sie stand in der Gasse und blieb einfach stehen. Ich merkte, dass Dirk immer unruhiger wurde. In seinem Blick lag etwas, was ich nicht deuten konnte. „Ist alles ok?“, fragte ich. Dann rannte er auf sie zu! Ich rannte ihm nach, packte ihn und schleuderte ihn auf den Boden. Sie schien es nicht zu bemerken. Ihr Gesicht und Körper wurde in ein seltsames Licht getaucht. Ich starrte sie einige Sekunden lang an, sah wie Dirk immer wieder um sich schlug und von mir weg wollte. Nicht einen Moment ließ ich locker und presste ihm eine Hand auf den Mund. Was war mit ihm plötzlich los? Ich drückte auf den Armbändern herum, die uns endlich auf die Rückreise brachten. Zuerst Dirk, dann ich. Fuck.
Als ich wieder in der Kammer erschien, war Dirk weg. Ich suchte ihn im ganzen Gebäude. Ich musste zur selben Zeit hier erschienen sein, darauf waren die Armbänder eingestellt. Trotzdem rief ich ihn an. Statt einer Mailbox oder etwas anderem, wurde ich mit einer jungen Frau verbunden. „Hallo?“, tönte es verschlafen aus meinem Smarterphone. Es war mitten in der Nacht. Ich legte einfach auf.
Das konnte nicht sein. In meinem Kopf drehten sich Gedanken und schoben sich hin und her, in- und auseinander. Warum war Dirk zu seiner Mutter so zugerannt. Er hatte vollkommen von den Sinnen gewirkt. In seinem Blick lag … Geilheit? Dirk existierte in dieser Zeit nicht. Aber alles war wie vorher. Hatte die Zeit wieder etwas geordnet? Wer war Dirk?
Was wäre passiert, wenn ich ihn nicht aufgehalten hätte? Wären wir dann wieder zusammen erschienen? Er schien von nirgendwo her zu kommen. Und ging immer nur durch dieselbe Welt. Er kam von nirgendwo her und ging nirgendwohin. Wie oft hatten wir das durchgespielt? Das ganze Konstrukt der Zeit schien auf mich niederzuprasseln und ich übergab mich. Wer oder was war er? Was war sein Anfang, was sein Ende?
Dirks Vater
Bibliothek
Video:
Hörbuchversion von Dirks Vater
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Interne Verweise
- Autorin/Autor: Daniel G. Spieker
- Prosa von Daniel G. Spieker
- Prosakategorie und Thema: Kurzgeschichten & Kurzprosa, Grusel, Horror & Spuk
Kommentare
Toll !!!
HG Olaf
Dankeschön!