Der Hunger ist keine Tante - Teil 6

Bild von Lena Kelm
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Auf dem Tisch stehen zwei Schälchen mit im Fett schwimmenden Innereien, Kaurdak. In der Mitte thront ein riesiges Tablett mit Beschbarmak. Ich kenne die Reihenfolge des aufgeschichteten Berges: die quadratischen Nudeln, reichlich mit Zwiebelringen bedeckt, mit der oberen fetteren Schicht der Boullion übergossen, obendrauf die Fleischstücke. Es duftet betörend. Nach kurzer Ansprache des ältesten Aksakals, des Oberhauptes, fällt die hungrige Tischgemeinschaft über das Gericht her. Die Kasachen greifen geschickt mit ihren fünf Fingern eine Portion, groß wie ein Fleischbällchen, und führen sie mühelos zum Mund.
Gabeln und Teller gibt es nicht. Keiner kleckert. Für mich eine Kunst wie das Essen mit Stäbchen. Ich gebe mir Mühe. Es schmeckt hervorragend. Ich sehe den anderen einfach nicht auf die Finger.
Mein Mann reißt die Augen auf. „Wo sind die Gabeln. Die essen ja mit Fingern!“, sagt er leise zu mir. Ich habe ihn ohne Worte verstanden. Das ist für ihn eine Katastrophe. Mein Mann, Nachkomme eines alten sibirischen Stamms, trinkt seinen Kaffee und Tee aus seinem speziellen Becher, den nicht einmal ich oder die Kinder benutzen dürfen.
„Tradition, das ist das nationale Fünf-Finger-Essen. Alle haben sich gründlich die Hände gewaschen. Du wirst nicht vergiftet. Es schmeckt wirklich lecker.“, sage ich zu ihm.
Uns, meinem Mann und mir, meinem Bruder und meiner Schwägerin werden als Ehrengäste die Ehrenteile vom Hammel zugeteilt: Ohren und Augen. Welchen Teil ich oder mein Mann in die Hand gedrückt bekamen, weiß ich nicht mehr, noch heute empfinde Ekel, Würgen wie damals. Das war auch für mich zu viel. Und nur weil die Erwachsenen weiter von uns entfernt saßen – erinnern Sie sich an den Satz von Tschechow – konnten wir unbemerkt unsere Ehrengabe an meine Schwägerin unter dem Tisch weiterreichen. Die Kinder aßen schnell und munter weiter, ohne uns zu beachten. Sie aßen bestimmt nicht oft Fleisch. Ich höre noch heute das Knirschen des Ohrenknorpels zwischen den Zähnen meines Bruders. Und wie er Sandsteinchen mit den Zähnen zermahlt.

- Forstsetzung folgt -

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Kommentare

23. Mai 2021

Frau Krause kocht ja nur vor Wut -
Aber DAS kann sie sehr gut ...

LG Axel

26. Mai 2021

Es geht doch nichts über ihre gute Bier- und Besensuppe,
vermutet Lena, dankt & grüßt