Klassentreffen

Bild von Kerim Mallée
Bibliothek

Seiten

Die Hölle, das sind die anderen.
-Jean Paul Sartre
 
„Du musst trinken.“ schreit Gus, als wüsste ich das nicht, als hätte ich den Schuss nicht gehört. Ich greife mir einen der unzähligen Tequila-Shots, die auf dem Tisch stehen und kippe ihn runter. Wir spielen Russisch-Roulette, mit einer Smartphone-App. Wen die Kugel erwischt, der muss trinken. Keine Kugel, die Schädel zerschmettert und Gehirnspritzer an Wände verteilt. Der Tod kommt ratenweise, in kleinen Gläsern. Alle trinken, spliffen, schnupfen und klinken Teile ein. Und sie reden darüber, was sie seit dem Abschluss getan haben. Sie erzählen ihre hochtrabenden Geschichten, obwohl sie eigentlich genau dieselben Menschen sind, die sie letztes Jahr waren. Dieselben schäbig kleinen, mickrigen Existenzen, im selben unüberschaubar hektischen Universum verloren. Sklaven des Ziffernblattes, die alles an sich reißen wollen, was sie in die Finger bekommen, bevor ihre Zeit vorbei ist. Nur eine Sekunde, von der großen Ewigkeit. Gustav, der mich anfeuert, während ich Tequila trinke, ist vielleicht noch ein bisschen fetter geworden. Jeder erzählt seine Geschichte und sie reden über Kevin, das Nr.1-Thema an diesem Abend. Kevin, der letzte Woche an einer Überdosis Speed gestorben ist, wahrscheinlich mit Rattengift gestreckt. Jeder erzählt, wie nahe er ihm doch stand. Alle erzählen es und sie ernten Mitleidsblicke und Beileidsbekundungen,  während sie mit ihren Kiefern knirschen und die weißen Pulverreste aus ihren Nasen pulen. Seit sechs Jahren war die Todesanzeige das erste Zeichen, welches ich von Kevin bekam. Sechs Jahre ist das schon her. Aber es kommt mir vor wie gestern. „Wir bleiben in Kontakt, du ziehst ja nur einen Ort weiter.“ Das waren meine letzten Worte an ihn. Sophia wirft Daniel lüsterne Blicke zu. Daniel ist bis obenhin zu mit Amph, Pech für sie. Egal, wie sehr sie mit ihren Reizen spielt, sie wird kein Blut in seinen Penis bekommen. Der wird die nächste Zeit, zu einem mickrigen Wurm zusammengezogen, zwischen Daniels Beinen hängen. Der Gedanke an Daniels Pep-Schwanz weckt Ekel in mir. Während ich nachdenke, wird mir bewusst, dass Johanna denselben Blick in ihren Augen hat wie Sophia und sie wirft ihn mir zu. Das ist so unangenehm, dass ich nochmal drei Shots kippe und dafür begeisterten Applaus von Gus, dem Fettsack, ernte. Ich will nicht hier sein. Ich will überall sein, nur nicht hier, zwischen diesen ganzen Idioten, die sich wegen ihrem bestanden Abitur, für so unglaublich weise und erwachsen halten. In Wirklichkeit sind sie alle nur betrunkene Kinder, die mit Drogen spielen, weil das ja zum Erwachsensein dazu gehört. Trotzdem ist mir jeder von ihnen lieber als Gustav, dieser fette Wichser. Früher mochte ich ihn mal, da war er noch schlank und sportlich. Damals, vor der Scheidung seiner Eltern. Damals, vor sechs Jahren, da waren Gus, Kevin und ich das Trio Infernale und lebten die Illusion von niemals endender Freundschaft. Erinnert er dich zu sehr an die Zeit mit Kevin? Du hattest doch genug Zeit, um ihn zu fragen, wie es ihm geht, oder was er macht und es war dir egal, sechs Jahre lang. Tu nicht so, als hätte sich da was geändert. Ich wende meinen Blick von Gus ab und suche torkelnd meinen Weg durch Daniels Wohnung. Ich brauche eine Zigarette. Auf dem Balkon treffe ich Roland, der einen schlecht gedrehten Joint raucht. Mit roten Augen hält er ihn mir hin und wir rauchen ihn zusammen fertig. Als ich wieder in die Wohnung trete, geht es mir plötzlich ziemlich dreckig. Ich spüre eine unangenehme schwere in meinem Kiefer. Mein Kehlkopfdeckel fühlt sich an, als wäre ich kurz davor mich zu erbrechen, aber es könnte nicht passieren. Statt dem erlösenden Schwall aus meinem Magen, muss ich dieses Gefühl ertragen, das einfach nicht stärker oder Schwächer werden will. Ich brauche Ablenkung von dieser Sisyphus-Folter. Doch aus der Küche tönt Daniels wütende Stimme: „Gus, leg den beschissenen Toaster wieder hin!“ Und ich habe auf keinen dieser Menschen Lust. Was immer Roland mir angedreht hat, das Zeug war entweder gestreckt (egal, ob wissentlich oder nicht), oder sonst irgendwie verunreinigt. Ich setze mich auf den Fußboden und lehne mich an die Wand zu Daniels Zimmer. Ich hole langsam und tief Luft, doch davon wird mir noch schlechter. Aber ich kann nicht aufhören und währenddessen starre ich in einen endlos großen Hausflur. Zum ersten Mal fällt mir auf, wie viele Türen er hat. Trotzdem bin ich mir sicher, dass hinter keiner von ihnen irgendetwas Interessantes zu finden ist. Mit meinen wirren Gedanken im Kopf bleibe ich sitzen und höre zu, wie der Toaster Todesqualen leidet. Im Suff findet man immer nur Fragen, aber keine Antworten. Diese verstecken sich auch nicht zwischen den Maschen des Teppichbodens, die meine zitternden Finger gerade aufwühlen, einfach nur um irgendetwas zu tun. Plötzlich ist Johanna neben mir. Sie ist einfach da, aber wie lange und woher, habe ich nicht mitbekommen. Ein bisschen zu vertraut nimmt sie meine Hand und fragt, ob alles in Ordnung sei. Sie ist ebenfalls mächtig betrunken, vielleicht sogar auf MDMA. Schwer zu sagen in meinem Zustand, aber ihre Stimme und ihre Offenheit deuten darauf. Trotzdem erkenne ich in ihren Augen, zwischen dem Rausch und der Geilheit, auch so etwas wie echte Sorge. Für eine Sekunde, fühle ich mich besser. Das Gefühl auf meinem Kehlkopfdeckel verschwindet. Meine Finger schließen sich ebenfalls um ihre Hand. Irgendwie schaffe ich es, die Kraft aufzubringen, aufzustehen und sie den einen Meter in Daniels Zimmer zu ziehen. Der Schlüssel steckt auf der Innenseite und ich kriege es hin, ihn umzudrehen. Wäre wahrscheinlich sowieso egal, denn die anderen sind zu sehr damit beschäftigt, Gus davon abzuhalten, seinen Schwanz in den Toaster zu stecken, oder ihn dabei mit ihren Handykameras zu filmen, damit ihr Selbstbewusstsein erhöht wird, wenn ein weiterer Spinner auf den blauen Daumen klickt, um sie mit einem „Gefällt mir“ zu segnen. Jetzt tut er mir ein bisschen leid. Armer betrunkener Idiot. Du armes fettes Schwein, wirst öffentlich geschlachtet, während deine Freunde applaudieren. Johanna sitzt lächelnd auf dem Bett. Sie zeigt keinen Widerstand, als ich sie küsse. Auch nicht, als meine Hand sich in ihre Bluse schiebt und ich spüre, wie

Seiten