Kurz vor Schluss

Bild von Teacherman
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In dieser Aufnahme sieht man das kleine Zimmer eines Anwesens in Südfrankreich, genauer gesagt der Côte de Nuits, eines der renommiertesten Weinanbaugebiete im Hexagon. Es ist früher Morgen, die warme Sonne scheint durch das Zimmer. Die Kameraeinstellung beginnt mit der Ansicht des Rückens meiner ausgestreckt im Bett liegenden Freundin. Sarah. Man sieht ihre Schulterblätter, ihren linken Arm, mit dem sie sich vom Bett abstützt, und das blonde Haar, das ihren Nacken und einen Teil ihrer Schulter bedeckt. Durch das einfallende Licht wirken die Haare golden und die Muskeln ihrer Schulterblätter als wären sie aus Bronze gearbeitet. Langsam schwenkt die Kamera über die weißen Bettlaken Richtung Fenster, die Schatten der wehenden Gardine huschen über die Laken wie Sand über Dünen. Dann kommt ein Lagotto ins Bild, ein italienischer Trüffelhund. Er liegt entspannt auf dem Bett, die Vorderpfoten wie eine Sphinx von sich gestreckt, und leckt sein Fell. Langsam schwenkt die Kamera zum Holzfenster. Die Aufnahme endet mit einem grellen Licht, welches das gesamte Bild erfüllt und überstrahlt. Fade-out.

Ich wache auf. Im Halbschlaf schweift mein Blick zum Zimmernachbarn. Er schläft noch. Mein blutarmer Freund, denke ich, schlaf weiter, schlaf weiter.
Ich schaue auf den Wecker. Es ist fünf Uhr dreißig, das Tageslicht dringt schon durch den dicken Vorhang und ich höre Vogelgezwitscher. Es kommt mir weit weg vor.
Ich würde aufstehen, wenn ich dazu imstande wäre. Ich könnte unter irgendeinem Vorwand die Schwester rufen, aber sie würde merken, dass ich es nur aus Langeweile und Einsamkeit getan habe und das wiederum wäre mir peinlich. Also gleitet mein Blick durch das sterile Zimmer, sucht sich irgendwann einen Punkt an der Wand und fixiert diesen. Ich falle in einen Schlummer, und träume.

Von der Höhe der Baumkrone arbeitet sich die Kamera langsam durch das sattgrün leuchtende Laub nach unten auf den Rasen. Am Horizont, über den Dächern von Paris, erstrahlt ein großer Stern und taucht alles in gleißendes Licht. Es ist Sommer und ich liege mit Nathalie aus Québec im Jardin du Luxembourg.
Ich streiche ihr mit meiner Hand durch das kastanienbraune Haar, immer und immer wieder. „Que tu es belle“, sage ich mit deutschem Akzent und zaubere damit ein Lächeln auf ihr Gesicht. Wenn sie mit mir redet, muss ich genau hinhören, denn das Québecois ist meinen Ohren noch recht fremd. Aber ich höre ihr gerne zu.
Ihr Gesicht ist von Sommersprossen übersät, sie hat einen fülligen, sinnlichen und roten Mund. So fühlt sich also Glück an, denke ich, und behutsam drücke ich meine Lippen auf ihre. Aus dem Off ertönt ‚Just a perfect day‘ von Lou Reed.

So muss es gewesen sein. War es so? Die Erinnerung verblasst, und an ihre Stelle tritt meine Phantasie, sie verleiht der Realität den Charakter einer kinematographischen Elegie.

Ich weiß noch, wie wir uns verabschiedeten. Sie nahm die Metro bei Oberkampf, ich stand auf dem Quai. Unsere Hände erhoben sich zu einem letzten Gruß. Dann verschwand sie mit den anderen Passagieren im schwarzen Tunnel. Ich hab sie nie wiedergesehen.

Frühstückszeit. Mein Zimmergenosse möchte Nutella auf sein Brötchen. Nur Nutella?, fragt die Schwester. Ja, nur Nutella, sagt er, und seine Stimme verrät, dass er bald ungehalten werden könnte.
Ich entscheide mich für Käse und Salami. Die schwierigste Entscheidung des Tages. Nachdem ich mit Mineralwasser die Medikamente eingenommen habe, schenkt die Schwester mir Tee ein.
Sie ist hübsch, denke ich. Vor zwanzig Jahren, denke ich, vor zwanzig Jahren wärst du mir vielleicht verfallen.
Was soll ich nun mit der ganzen Zeit anfangen? Die Unfähigkeit meines Körpers, sich zu bewegen, gleiche ich mit der Rastlosigkeit meiner Gedankengänge aus. Und über allem hängt das Damoklesschwert meines nahenden Todes.
Ich will weinen. Weinen und mich dabei erinnern. Mit meinen Gedanken versuche ich aus diesem Raum zu flüchten, aber nicht in Phantasien, sondern in wirklich erlebte und gefühlte Szenarien. Ich bin Scorsese, Coppola und Stone in einem, ich führe Regie im Film meines Lebens. Flashbacks sind was Feines!

Wo sind sie jetzt, diese Mädchen, diese Frauen, wo ist ihr Glanz, der mich erfüllte?

Weil ich noch genau ihre Füße vor Augen habe, werde ich mit einer Nahaufnahme davon beginnen. Annemaries Füße. Ihre nackten Füße liefen über Schotter, über Asphalt, über Wiesen, über Teer, über Gras, über Sand und über Kiesel bis zur Nürburg.
Sie war Amerikanerin und Teilnehmerin des ‚language camps’ in der Eifel, ich war einer der, aber nicht ihr Lehrer.
Sie war ein Wildfang aus Denton, Texas, sie sagte immer ‚like‘, ‚you know‘ ‚it’s like’ und ich war drauf und dran, sie für dumm zu halten. Aber zwischen diese Füllwörter presste sie einen Text, der ihr Leben schilderte. Das zerrüttete Familienhaus, das Alleinsein mit ihren drei älteren Brüdern, die Musik, die sie machte und hörte. Ich erkannte mich in ihrem Leben wieder.

Szenen unserer Begegnungen: Am Nachmittagstisch, die Hausangestellten deckten schon ab, die anderen Amerikaner waren schon fort, wir saßen nur da und unterhielten uns. Oder vorher: Sie saß unter dem großen Baum auf der Wiese vor dem Hause und las ein Buch von Hemingway. Sie trug ein gelbes T-Shirt und ein Kleid aus bunten Reißverschlüssen, das sie sich selber zusammengenäht hatte. Die anderen Lehrer meinten, sie wäre schon bei den Vorbereitungstreffen in den USA gerne für sich allein gewesen.
Die nachhaltigste Erinnerung: Unser Marsch durch die Eifel. An einem schönen Sommertag machten wir uns daran, zur Nürburg zu laufen. Zu Beginn des Marsches unterhielten wir uns zufällig, dann lief sie mal ein Stück weiter vor mir her, barfuß, und unterhielt sich mit den Anderen. Irgendwann bemerkte ich an mir, dass ich nach ihr Ausschau hielt, sie einzuholen versuchte oder mich zurückfallen ließ, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Und irgendwann bemerkte ich, dass sie genau dasselbe tat.
Wir haben nur geredet. Ich habe sie nicht berührt. Aber da war etwas, ein Gefühl tiefer Verbundenheit. Ich sehne mich manchmal nach diesem Gefühl. Und manchmal kann ich es in Erinnerung an sie künstlich erzeugen.

Er röchelt. Ich drücke an seiner Statt den Knopf für die Schwester. Schnell kommen zwei herbeigelaufen, machen ruhig und sicher, aber doch geschäftig, die nötigen Handgriffe um

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