Liebe

Bild von Anita Zöhrer
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Schnee bedeckte das Land und der Vollmond erhellte die Nacht. Nur schwer konnte ich mich vor den Männern verstecken, die hinter mir her waren. Meine Spuren führten sie direkt zu mir.

Noch tiefer flüchtete ich in den Wald hinein. Das Säuseln des Windes erzählte mir von einem Mann, der hier wohnte und mir Schutz bieten konnte. Doch wie sollte ich ihn finden, wo nach ihm suchen?

Immer dichter rückten die Männer an mich heran. Ich kroch unter die Zweige einer riesigen Tanne, hoffte, dass sie mich dort nicht erreichen würden. Um mich vor meinen Verfolgern zu verbergen, legte die Tanne ihr Astwerk über mich, doch es nützte nichts. Einer der Männer hatte eine Axt bei sich und schlug auf die Äste ein. Vergeblich versuchte sie, sich zu wehren. Die beiden anderen Männer kämpften sich zu mir durch und zogen mich aus dem Dickicht hervor. Ich schrie um Hilfe und trat nach ihnen, doch ich hatte nicht die geringste Chance gegen sie.
Verzweifelt flehte ich sie an, mich in Ruhe zu lassen, doch die Männer waren betrunken und lachten nur über mich.
Nicht zum ersten Mal geschah es, dass ich ihnen zum Opfer fiel. Ich sehnte mich nach Liebe und Nähe, aber nicht auf diese Art und Weise, wie die Männer sie mir aufdrängten. Es widerte mich an, wie sie mich anfassten. Ihre Küsse hatten mir bereits nächtelang Albträume beschert.
Ekel erfüllte mich, als sie mich entblößten. Ich weinte, doch meine Gefühle spielten für die Männer keine Rolle. Für sie zählte nur mein Körper. Ich hasste es, sie in mir zu spüren. Einen nach dem anderen, so wie es ihnen beliebte.

Das Heulen eines Wolfes durchdrang die Stille. Schneeflocken wirbelten einige Meter unweit von uns auf.
„Lasst sie gehen.“
Ein schwarz gekleideter Mann erschien zwischen den Flocken und hinter ihm eine Horde von Wölfen, die knurrten und die Zähne fletschten. Ob das der Mann war, von dem mir der Wind erzählt hatte? Ich hoffte es.
Furcht ergriff die Männer. Ohne lange zu überlegen, ließen sie von mir ab und sahen zu, dass sie von hier weg kamen.
Ruhe kehrte unter den Wölfen ein und sie verstummten. Ein sanfter Windhauch strich über meine Haut und kleidete mich wieder in mein Gewand.
Ich wagte kaum, mich zu bewegen, als sich der Mann und die Wölfe mir näherten. Nichtsdestotrotz konnte nichts, was sie nun im Schilde führten, so schrecklich sein wie das, was mir die Männer angetan hatten.
Die Wölfe beschnupperten mich und schleckten mich ab. Samtig fühlten sich ihre Zungen an. Wärme schenkten sie mir mit ihrem weichen Fell.
Der Mann hockte sich zu mir und lächelte.
„Gestatten, ich bin der Tod.“
Ich spürte, wie die Wunden meiner Seele heilten und mein Herz Trost bei ihm fand. Noch nie zuvor hatte ich bei jemandem so viel Geborgenheit empfunden wie bei ihm.

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