Oh Maria

Bild zeigt Anita Zöhrer
von Anita Zöhrer

Wie an jedem Abend sitzt Fred nach der Arbeit in seinem Lieblingscafé nahe dem Stephansdom und liest bei einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen die Tageszeitung. Wie an jedem Abend sinnt er über die schrecklichen Ereignisse nach, von denen berichtet wird. Angefangen von der Zerstörung der Umwelt bis hin zu nicht enden wollenden Kriegen ist alles mit dabei, besonders nahe geht ihm heute jedoch der Tod eines kleinen Mädchens.
„Haben Sie noch einen Wunsch, mein Herr?“, reißt ihn der Kellner aus seinen Gedanken, wie aus einem Schlaf erwacht fährt Fred auf und bittet ihn um eine weitere Tasse Kaffee. „Ein kleiner Brauner wäre fein.“ Sein Lieblingskaffee in seinem Lieblingscafé.
„Gerne.“ Freundlich lächelnd nickt der Kellner und will gehen, Fred hält ihn jedoch davon ab.
„Kennen Sie schon die Nachrichten von heute?“, erkundigt er sich, weniger interessiert ihm die Antwort des Kellners auf diese Frage, als dass er jemanden braucht, bei dem er sich aussprechen kann. Das Drama um das kleine Mädchen beschäftigt ihn doch gar sehr.
„Nein, mein Herr. Ich hatte heute noch keine Gelegenheit, mich über die neuesten Themen zu erkundigen“, erwidert der Kellner. Sogleich beginnt Fred, ihm den Artikel über das Mädchen vorzulesen. Gestern ist es also gewesen, als sich der tragische Vorfall ereignet hat.
„Erschlagen? Ein Mädchen im Alter von fünf? Wie furchtbar! Doch nicht etwa von seinen Eltern?“
„Nein, nein, viel schlimmer.“
„Schlimmer?“
„Von der Mutter Gottes.“
„Wie bitte?“
„Sie haben richtig verstanden. … erschlagen von einer einen Meter hohen Marienstatue“, liest Fred weiter vor, wieder wird er von dem Kellner unterbrochen.
„Von einer Marienstatue? Wie ist denn so etwas möglich?“
„Pfusch am Bau.“
„Beim Bau der Statue?“
„Beim Bau des Sockels, auf dem sie gestanden hat.“
Der Kellner schüttelt seinen Kopf, er kann das Unglück kaum fassen. Fred trinkt seine Tasse Kaffee leer, da fällt dem Kellner seine Bestellung wieder ein.
„Ihr Kaffee! O Maria hilf!“
„Nach dieser Aktion glaube ich nicht, dass es Maria im Moment so sehr danach ist, jemandem zu helfen“, schmunzelt Fred und blättert in seiner Zeitung.
„Wenn es Ihnen Recht ist, würde ich mich gerne zu Ihnen setzen und noch mehr über den Artikel erfahren.“
„Bitte gerne!“, freut sich Fred und deutet mit einer einladenden Handbewegung auf den freien Sessel ihm gegenüber. Schnell eilt der Kellner davon, er kann es vor Neugierde kaum noch erwarten, sein Gespräch mit Fred fortzusetzen. Dass ausgerechnet heute in dem eigentlich sonst so vollen Café nicht viel los ist, kommt ihm sehr entgegen.

„Welche Firma war denn so dumm, einen derart unfähigen Mitarbeiter mit dem Bau des Sockels zu beauftragen?“
Die Sonne ist bereits untergegangen, die Lichter sind an. Fred und der Kellner haben sich in den Gastgarten gesetzt, auch der Kellner genehmigt sich nun eine Tasse schwarzen Genusses.
„Die Kirche“, gibt Fred zur Antwort.
„Die Kirche? Was ist denn das für ein Verein? Noch nie davon gehört!“
„Die Kirche eben. Es war der dortige Pfarrer, der den Sockel bei der Kirche errichtet hatte, wo das Mädchen mit Freundinnen gespielt hat.“
„Unglaublich“, der Kellner kann es noch immer nicht fassen.
„Seine größten Hobbies sind handwerkliche Tätigkeiten“, fährt Fred fort.
„Aber nicht seine größten Talente“, fügt der Kellner hinzu. Er wird von einem anderen Gast gerufen.
„Ja, einen Moment, bitte! Lucy?“
„Ja?“ Die Stimme einer jungen Frau dringt aus dem Café ins Freie. „Könntest du bitte die Bestellung des netten Herrn dort in der Ecke aufnehmen?“
„Sicher!“ Die junge Frau kommt hinaus ins Freie, sie ist ebenfalls Kellnerin.
„Danke, du bist ein Schatz. Hast was gut bei mir!“, ruft der Kellner ihr erleichtert zu und widmet sich anschließend wieder Fred.
„Was geschieht denn nun mit ihm? Kommt er ins Gefängnis?“
„Die Ermittlungen haben gerade erst begonnen, aber es sieht ganz danach aus, dass er wegen fahrlässiger Tötung angezeigt und verklagt wird.“
„Hoffen wir’s!“ Der Kellner nippt an seiner Tasse.
„So weit ist es schon mit dieser Welt, noch nicht einmal die Kirche ist uns mehr gnädig gestimmt“, seufzt Fred.
„Sie glauben an eine Verschwörung?“
„Selbstverständlich, das liegt doch klar auf der Hand. Sehen Sie, der Pfarrer pfuscht beim Bau eines lächerlichen Sockels, obwohl er als ein ausgezeichneter Heimwerker bekannt ist.“
„Diese Karriere ist nun auf jeden Fall ein für alle Mal beendet.“
„Und dann fällt die Statue genau dann herunter, als ein kleines Mädchen daran vorbeiläuft. Also ich glaube nicht, dass das alles nur ein Zufall ist.“
„Sie haben ja Recht. Meinen Sie, der Mutter Gottes sind die Nerven durchgegangen und sie hat den Pfarrer dazu genötigt, sich an uns Menschen zu rächen?“
„Ja, und ich fürchte das ist erst der Anfang“, Fred blickt auf seine Armbanduhr und erschrickt. Es ist bereits zehn Uhr nachts. „Meine Güte, schon so spät! Morgen muss ich wieder früh raus. Sie wissen ja, die Arbeit.“
Der Kellner nickt zustimmend und Fred trinkt seinen Kaffee aus.
„Dann wünsche ich Ihnen eine erholsame und gute Nacht. Bis morgen.“ Fred steht auf und geht.
„Bis morgen!“, ruft der Kellner ihm hinterher und nimmt die Zeit, die Fred liegen gelassen hat. Er liest noch einmal den Artikel über das tote Mädchen und schüttelt seinen Kopf. Die Mutter Gottes, sonst als Fürsprecherin und milde Helferin bekannt und jetzt das. Der Kellner kann es nicht fassen.

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