Eine Fliege hatte sich im Netz einer Spinne verfangen. Doch bevor sie sich dem Tod ergab, wollte sie versuchen, das Herz der Spinne zu erweichen. Also bat sie diese: „Lass mich frei um Gottes Lohn.“ Darauf antwortete die Spinne: „Ich glaube nicht an Gott. Deswegen ist mir sein Lohn zu ungewiss. Hast du kein besseres Argument?“ Trostlos klagte die Fliege: „Erbarme dich meiner Kinder, die ohne mich verhungern müssen.“ Ungerührt erwiderte die Spinne: „Ich wollte mein Leben lang Kinder, die mir dein Gott verweigert hat. Also hast du es bis jetzt besser gelebt als ich. Es wäre nicht ungerecht, wenn ich dem ein Ende bereite.“ Die verzweifelte Fliege versuchte noch einmal die Spinne umzustimmen: „Gönne dir das schöne Gefühl, das die gute Tat meiner Befreiung in dir auslöst.“ Darauf entgegnete die Spinne: “Ich habe noch nie das schöne Gefühl einer guten Tat verspürt, aber ich weiß, wie angenehm es ist, meinen Hunger zu stillen. Der Worte sind genug gewechselt.“ Darauf fraß sie die Fliege.
Ohne Moral

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- Autorin/Autor: Ekkehart Mittelberg
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- Prosakategorie und Thema: Fabeln, Gesellschafts- & Entwicklungsinhalte
Kommentare
Vielleicht war es eine Eintagsfliege !
Sehr schöner Text.
HG Olaf
Gracias, Olaf. Das käme der Spinne als Argument gelegen.
Dass sie ihr überhaupt so lange zugehört hat – da war der Hunger wohl nicht so groß.
Merci, Noe. ich sage ja: Ohne Moral
Bist du im Netz erstmal gefangen,
hilft dir kein Flehen, nurmehr bangen,
der Netzte gibt es wahrlich viele,
die meisten führen nicht zum Ziele...
Gerne gelesen lieber Ekki!
LG Uschi
Grazie, Uschi. So traurig es ist: Der Fliege bleibt nur mit Würde zu sterben.
LG
Ekki
Eine schlüssige Fabel. Wir unterstellen Tieren menschliches Verhalten. Die Spinne frisst die Fliege – gnadenlos. Genauso gnadenlos können Menschen mit Menschen umgehen, wie wir alle wissen. Ich liebe die Fabeln von Jean La Fontaine, besonders die von der Ameise und der Grille …
LG Marie
Vielen Dank, Marie. Wir teilen die Wertschätzung von La Fontaine.
LG
Ekki