Die Textilmanufaktur von Villeneuvette - Page 2

Bild von Dieter J Baumgart
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Versorgung mit Bewegungsenergie, die über Transmissionen an die Arbeitsplätze gebracht wird und jederzeit verlustfrei an- und abgeschaltet werden kann.
     Das Projekt und seine vorteilhafte Lage nahe am Mittelmeer entgeht auch nicht dem ökonomisch geschulten Auge Jean-Baptiste Colberts, der als staatspolitischer und volkswirtschaftlicher Reformator unter Ludwig dem XIV. Geschichte schreibt. Colbert,  selbst Sohn eines Tuchhändlers, hatte bereit 1665 eine der ersten Spitzenmanufakturen Frankreichs in Saptes (Aude) gegründet. Nach ihm ist auch die Colbert-Stickerei benannt. Merkmal sind die mit Kordel – oft Goldschnur – eingefaßten Arabesken und floralen Musterelemente, die zuvor mit Spitzen- und Damaststichmustern ausgefüllt wurden.
     Ist es einerseits die Erinnerung an die eigene Jugend, die Colberts Interesse an der neu entstehenden Manufaktur in der Nähe von Clermont-l’Hérault  weckt, so gibt es doch auch handfeste wirtschaftliche Belange, die den nunmehrigen Staatssekretär des Königlichen Hauses und Generalkontrolleur der Finanzen bewegen, seine schützende Hand über das junge Unternehmen zu halten. Hier ergibt sich eine Möglichkeit, die Überlegenheit der englischen und holländischen Konkurrenz im Tuchhandel auf dem orientalischen Markt zu brechen und bei dieser Gelegenheit auch die eigene Hausmacht zu stärken.
     Colbert, der die unternehmerische Weitsicht Pougets wohl zu schätzen weiß, nimmt gern das Risiko auf sich und vermittelt dem Unternehmen den Status einer Königlichen Manufaktur, die zweite nach Saptes,  und überschüttet sie mit Subventionen. So entsteht am 20. Juli 1677 auf Betreiben Colberts und durch Gnadenerweis Ludwig des XIV. unter Einbeziehung der vorhandenen Fertigungsstätten eine neue Kommune, indem den Gemeinden Clermont-l’Hérault und Nébian eine Fläche von 315 ha, das sind 3,15 km2, abgenommen wird. Ihr Name, Villeneuve le Clermont, wandelt sich bald in Villeneuvette, was in Clermont-l’Hérault negativ vermerkt und nicht so bald vergessen wird. Eine darüber hinaus gewährte feste finanzielle Unterstützung wird allerdings mit strengen Auflagen verbunden, um die Qualität der nur für den Export bestimmten Stoffe zu sichern.
     Das Wagnis, mitten auf dem Land eine Produktionsstätte aufzubauen, die den Ansprüchen der unterschiedlichen textilen Techniken gerecht wird, kann aber nur gelingen, wenn alle Aspekte gebührend berücksichtigt werden. Das beginnt schon mit dem Entfetten der aus Spanien kommenden Merinowolle, führt weiter über das Krempeln oder Karden (Glätten der büscheligen Fasern, bevor sie versponnen werden), das Spinnen und Weben bis zur Einfärbung mit dem aus der Koschenille-Schildlaus gewonnenen Karmin und dem Extrakt aus dem mittelamerikanischen Campeche-, Blau- oder Blutholz.
     Das alles macht die Anwerbung und Unterbringung möglichst vieler handwerklicher Fachkräfte notwendig. So entsteht um die Werkstätten herum ab 1681 eine Arbeitersiedlung mit 66 Wohnungen, zu der auch ein Bauernhof mit 800 Hammeln, zwei Getreidemühlen und viel Land gehört.
     Die Ankunft eines Bäckers und eines Apothekers sowie eines Arztes leitet schließlich eine Entwicklung ein, in deren Verlauf sich die Manufaktur bald in ein selbständiges Dorf wandelt. Dieser besonderen Struktur hat es Villeneuvette auch zu verdanken, daß das Unternehmen die kommenden, wirtschaftlich wie politisch und sozial schweren Zeiten übersteht.
     Und auch der architektonische Habitus der Anlage, geprägt von einer Zeit kultureller Blüte und wirtschaftlichen Wohlstands, überdauert zumindest in den Grundzügen. Denn schon 1682 macht André Pouget Konkurs, die Manufaktur wird von der Hauptgläubigerin, der Compagnie du Levant, übernommen.

                                                       II. Le Grand Guillaume

     1703 kauft Honoré Pouget, der Sohn von André, die Manufaktur wieder zurück. Siebzehn Jahre später schließlich erwirbt Guillaume Castanier d’Auriac, Sohn eines Tuchhändlers aus Carcassonne, dem bereits die Manufaktur in Saptes gehört, das inzwischen 43 Jahre alte Gemeinwesen.
     Dank seiner drei Vettern, einer ist Direktor am Ort, der zweite Händler in Marseille und der dritte schließlich Direktor der Compagnie des Indes, verzeichnet das Unternehmen einen Höhenflug. Inzwischen werden 800 Arbeiter beschäftigt, von denen 300 in Villeneuvette wohnen. Jährlich werden 120 Ballen (ungefähr 60 000 Meter) feinstes Tuch in den Orient exportiert, was einem Umsatz von 300 bis 400 000 Livres (etwa 14 000 Louisdor) entspricht.
     Die Manufaktur wächst, neue Gebäude werden errichtet: 47 Häuser mit Werkstätten für die Weber, 4 Walkmühlen, eine Färberei, ein Herrenhaus  an der Grand'rue, Geschäfte, eine Kapelle. Und schließlich, zum besonderen plaisir des Besitzers Guillaume Castanier d’Auriac,  auch ein buffet d’eau, im Volksmund Grand Guillaume genannt, und ein Brunnen  auf der Place Louis XIV. Die „Wasserkunst“ ist Vorbildern in Versailles nachempfunden und soll in Verbindung mit einem vorgelagerten Parc à la française Besucher und Kunden ergötzen.
     Jeder Weber verfügt nun mit seiner Familie über eine Werkstatt im Erdgeschoß mit einer darüber liegenden Wohnung. Um den holländischen Manufakturen mehr Konkurrenz zu machen, wurden die Spezialisten abgeworben, die im Austausch für ein Leben unter südlicher Sonne gern ihre Geheimnisse preisgeben.
     Bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts war der Einfluß Colberts auf den Sonnenkönig, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund unterlassener innerer Reformen und einer immer aggressiver werdenden Außenpolitik, spürbar zurückgegangen. So kommen dem neuen Eigentümer, Guillaume Castanier, die verwandtschaftlichen Beziehungen durchaus gelegen und gleichen das nachlassende Engagement des Staates wirksam aus. Ganz gewiß aber ist es auch die inzwischen gewachsene soziale Struktur in dieser Mischung aus Dorf und Arbeitsstätte, die nicht nur in den immer unruhiger werdenden Zeiten den Arbeitsfrieden sichert, sondern in der Zukunft noch zu ungeahnter Blüte führen wird.
     Im Augenblick aber ist die finanzielle Situation des Unternehmens geschwächt; immer wieder werden die Handelswege in den Orient durch Kriege gestört, und der schleichende Machtverfall unter Ludwig dem XV. führt schließlich zielstrebig in die Französische Revolution von 1789.
     Die Ära Guillaume Castanier endet anders als sie begann, und die „Wasserkunst“ ist nur noch Erinnerung an wirtschaftlich bessere Zeiten. Drei aufeinander folgende Eigentümer können zwar die Manufaktur vor dem endgültigen Zusammenbruch bewahren, doch bietet das, was Denis Gayraud 1793 für wenig Geld kauft, kaum Anlaß zu großen Hoffnungen.
     In diese Zeit fällt auch der Bau eines kleinen Aquädukts über die Dourbie 500 Meter flußaufwärts von Villeneuvette. So kann eine auf der anderen Seite der Dourbie in passender Höhe gelegene Quelle zur effizienteren Befüllung des Wasserbeckens genutzt werden, was den Betrieb leistungsfähigerer Turbinen erlaubte.  Noch heute ist das Bauwerk unter dem Namen Pont d'amour bekannt. So wird berichtet, daß die Liebenden Hand in Hand bis zur Mitte des

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