Mai – aber noch immer kalt

Bild von Annelie Kelch
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Gelegentlich überfällt mich das Gefühl,
mancher Winter währt ein halbes Jahrhundert:
hartnäckig und zäh wie uraltes Schuhleder.
Und begriffsstutzig. -
Er versteht den Wink
der neuen grünen Blätter
und Blumen nicht –
winkt statt dessen zurück – eine echte Plage!
Man muss ein heiteres Herz haben,
um nicht sterben zu wollen
wie die alten Blätter der Bäume,
wenn der Winter sich in den Herbst
schleicht und Kälte verbreitet.

Die Abende sind dunkel wie in einem
unbehausten Gebäude, das um jeden Preis
sein Geheimnis bewahren will,
während es uns gefangen hält.
Die Nächte sind trist, blutleer, Gespensterzeit,
irgendwie albern und doch ...
Dein Körper wärmt dich nicht mehr,
weil die Sonne ausgewandert ist;
du brauchst Hilfe, um nicht zu erfrieren.

Ich hatte damals Angst im großen Tunnel
auf dem kleinen Gehsteig – keinen halben Meter breit.
Ich erwartete das Auto, das mich umnieten sollte.
Oder dass die Neonröhren platzten.
Stattdessen sandte Gott ein Licht – fremd, aber schön:
als verströmten tausend Engel ihre Auren.
Es wollte mich aufsaugen, doch ich wehrte
mich dagegen – mit all meiner Kraft.
Wahrscheinlich werde ich es eines
Tages bitter bereuen; aber das
Paradies ist mir noch unheimlicher
als zur Zeit diese Welt.

Ich dachte dabei an Jesus bei den Essäern. -
Eine Sekte für sich.
Scientology-Mitglieder,
würde man heut' dazu sagen:
Ignoranten,
Fetischisten,
bigott bis zum Abwinken.
Lest es getrost nach …
euch werden die Augen überfließen
und ein Licht aufgehen.
Selbst, wenn es euch wie
ein Märchen erscheint.
Es ist alles schon mal dagewesen
und wiederholt sich permanent.

Jesus schwebte paarmal über dem Boden,
vertieft im Gebet.
Sie, die Essener oder Essäer,
hielten ihn für einen Magier,
erkannten ihren eigenen Messias nicht.
Ausgerechnet diese Perfektionisten.
Wie peinlich!, kann man dazu nur sagen.

Als Essēner oder Essäer wird eine vermutete religiöse Gruppe im antiken Judentum vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n. Chr.) bezeichnet.
Nach verschiedenen Angaben zeitgenössischer Autoren befolgten sie strenge, zum Teil asketische Lebensregeln. Außer diesen literarischen Zeugnissen gibt es keine Beweise ihrer Existenz. Die seit 1952 einflussreiche These, sie seien identisch oder verwandt mit den Bewohnern von Qumran („Qumran-Essener“) und den Herstellern und Autoren einiger oder aller Schriftrollen vom Toten Meer, wird heute aufgrund der Befunde relativiert oder bestritten.

Interne Verweise

Kommentare

05. Mai 2017

Deine Gedichte leses ich immer sehr gerne, dieses muss ich mir später in Ruhe noch einmal vornehmen, um es ganz zu verstehen.
Liebe Grüße, Marie

06. Mai 2017

Danke, liebe Marie, für deinen Kommentar. Knöpfe es dir vor, dieses Gedicht im Houllebecq-Stil. Es fällt ein wenig aus dem gewohnten Rahmen.

Liebe Grüße
Annelie