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Urteil den Handelnden ab; dadurch ist dieser über jeden Tadel erhaben und kann sein Vorgehen rechtfertigen.« Die einzige Ursache aller unserer Irrtümer rührt daher, daß wir das für Naturgesetze halten, was nur den Gewohnheiten und Vorurteilen[286] der Zivilisation entspringt. Nichts auf der Welt verletzt die Natur; die Zivilisation, mehr zorniger Natur, fühlt sich fast jeden Moment beleidigt; aber was liegt denn an ihrer Beleidigung! Die menschlichen Gesetze verletzen heißt ein Hirngespinst beschimpfen. Hatten die, welche an dieser Zivilisation arbeiteten, meine Zustimmung? »Kann ich Gesetzen anhänglich sein, die meinen Trieben und meiner Vernunft widerstreben?«
Justine rühmte die Vorzüge unserer Wahrnehmungen; dann wollte sie, sich auf ihre schwankende Basis stützend, daraus fälschlich die Richtigkeit der Religion ableiten. »Ich gebe zu,« erwiderte d'Esterval, »daß unsere Wahrnehmungen und unsere Organe, die feiner entwickelt sind als bei den Tieren, uns veranlaßt haben, an die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit zu glauben; darum schrieben wir, so wie Sie es tun; gibt es einen besseren Beweis für die Richtigkeit jener Dinge, als daß wir genötigt sind, sie zuzugeben, aber gerade da zeigt sich der Sophismus. Es ist ganz richtig, daß die Beschaffenheit, die uns die Natur zuteil werden ließ, uns nötigt, Hirngespinste zu schaffen und uns oft durch solche zu trösten; aber die Existenzberechtigung eines Kultes ist deshalb nicht bewiesen. Der Mensch wäre das glücklichste Wesen, wenn sich jeder seiner Wünsche und Illusionen verwirklichte. Noch einmal wiederhole ich es, der Vorteil, den wir von einer Sache haben, bewirkt noch nicht deren Verwirklichung, selbst wenn es noch mehr in unserem Interesse gelegen wäre, mit einem der gütigen Wesen zu tun zu haben (als solches Gott von seinen Anhängern bezeichnet wird), so würde das noch kein Beweis sein für dessen Existenz. Es ist tausendmal angenehmer für den Menschen, von einer blinden Natur abhängig zu sein, als von einem Wesen, dessen gute Eigenschaften nur von den Theologen festgestellt sind, aber jeden Augenblick durch die Tatsachen Lügen gestraft werden. Die Natur bietet uns, wenn sie gut erforscht ist, alles, was wir brauchen, um uns so glücklich zu machen, als unsere Organisation es zuläßt. Durch sie können wir unsere physischen Bedürfnisse befriedigen; in ihr sind alle Gesetze unseres Glückes und unserer Erhaltung gelegen, was sich von ihr entfernt, ist chimärisch und muß von uns unser ganzes Leben lang verflucht und verabscheut werden.«
Aber wenn auch Justine nicht die ihren Wirten charakterisierende Geisteskraft besaß, um so viel Philosophie zu bekämpfen, so entsprangen doch manchmal ihrem Herzen Gedanken, die zu widerlegen selbst jenen kaum möglich war. Das geschah eines Tages, als d'Esterval mit ihr wegen ihrer Neigung zum Wohltun disputierte und ihr die ganze Haltlosigkeit[287] dieser angeblichen Tugend zum Bewußtsein zu bringen versuchte. »Ja,« sagte sie mit diesem beredten Pathos, der oft sogar den Geist bezwingt, »ich weiß wohl, daß alles Wohltun keinen Dank einträgt; aber ich ziehe es vor, von der Ungerechtigkeit der Menschen als den Vorwürfen meines Herzens zu leiden.«21
Solche Gespräche wurden geführt, ohne daß die Sittenverderbnis die trefflichen Grundsätze der Kindheit in unserer Heldin hätte vernichten können, als Fremde in der Herberge anlangten.
»Was sie betrifft,« sagte d'Esterval, »werden sie uns nicht viel Geld eintragen, wohl aber eine tüchtige Menge Wollust; ich fühle es am Prickeln in meinem Innern.« – »Was sind denn das für Leute?« fragte Dorothéa. – »Eine elende Familie, bestehend aus Vater, Mutter und Tochter. Der erstere, noch kräftig, wird dir gute Dienste leisten wie ich hoffe, die Mama, komm' schau' 'mal durchs Fenster: höchstens dreißig Jahre, weißer Teint, hübsche Taille; die Tochter ist eine Schönheit, dreizehn Jahre alt, ein bezauberndes Gesicht. O Dorothéa, welch eine Entladung wird das werden!«
»Mein Herr,« sagte der Vater, sich respektvoll an den Wirt wendend, »ich glaube, Sie vor meinem Eintreten von unserem Mißgeschick in Kenntnis setzen zu müssen; es ist derartig, daß es uns unmöglich sein wird, unsere Ausgaben zu bezahlen, so klein sie auch sein mögen. Wir waren nicht zum Unglück geboren; meine Frau hat einigen Besitz mitbekommen, auch ich habe etwas besessen. Schreckliche Verhältnisse haben uns ruiniert; wir rechnen auf die Wohltätigkeit der Menschen, um uns zu einem Verwandten ins Elsaß zu begeben, der uns einige Hilfe versprochen hat.« – »Ach d'Esterval,« flüsterte Justine ins Ohr des Herbergvaters, »Sie werden doch das Unglück respektieren, nicht wahr?« – »Justine,« sagte der Grausame, führen Sie diese Leute ins gewohnte Gemach; »ich will für ihr Abendessen sorge tragen.« Und Justine begreift voll Schmerz, durch den Befehl, daß das Los dieser nicht besser sein wird als das der anderen, und führt die arme Familie traurig in das für sie bestimmte unheilvolle Zimmer.
»Unglückliche,« sagt sie zu ihnen, als sie dort eingezogen waren, »nichts kann euch schützen vor der Frevelhaftigkeit der Leute, bei denen Ihr seid; machet nicht einmal den Versuch, hinauszugehen, Ihr könnt es nicht mehr. Aber[288] leget euch nicht zu Bette; zerbrecht oder zerschneidet womöglich die Gitter eures Fensters; lasset euch in den Hof hinab und rettet euch blitzschnell.« – »Wie? ... was sagen Sie? ... Himmel! ... was haben wir Unglücklichen, das die Wut oder die Raubsucht dieser Menschen erregen könnte? Das ist ja unmöglich!« – »Doch, es ist so; beeilen Sie sich; in einer Viertelstunde ist es schon zu spät.« – »Wenn ich es versuchte,« sagte der Vater, sich dem Fenster nähernd, »wenn ich den Rat befolge, so ist der Hof, in den wir gelangen, von einer Mauer umgeben, wir wären ebenso eingesperrt. Nun gut, Fräulein, da Sie so gut sind, uns zu warnen, da unser unglückseliges Geschick Ihre Teilnahme erweckt, versuchen Sie, uns Waffen zu verschaffen; dieses Mittel, ehrenhafter und schwerer, wird uns genügen, ich bin überzeugt.« – »Waffen ... rechnen Sie nicht damit,« entgegnete Justine, »ich verfüge nicht über solche. Versuchen Sie zu fliehen, ich kann Ihnen nur diesen Rat erteilen; wenn die Flucht Ihnen nicht glückt, halten Sie sich am Bette fest, ohne zu schlafen; diese Stellung wird Sie vielleicht vor einer Falltüre sichern, durch die man sie in die Tiefe stürzen will, Adieu ... fragen Sie mich nicht weiter.«
Der Schmerz des unglücklichen Vaters ist unbeschreiblich. Kaum ist Justine weggegangen, wirft er sich in die Arme seiner Frau. »Teure Freundin,« ruft er,