Gefährlicher Sommer (Teil 6)

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von Annelie Kelch

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Und ein Mann starb im ewigen Wald
Wo ihn Sturm und Strom umbrauste.
Starb wie ein Tier in Wurzeln eingekrallt
Schaute hoch in die Wipfel, wo über dem Wald
Sturm seit Tagen über alles sauste.
– Bertolt Brecht, Der Tod im Wald –
(erste Fassung des Gedichtes „Vom Tod im (Hathoury-)Wald)“

Knut

Während Leni und ich schweigend die Eier aus den Nestern fischten, verfolgte mich eine neugierige Henne mit nahezu fleckenlos weißem Gefieder auf Schritt und Tritt. Sie starrte mit schief gelegtem Kopf zu mir empor und ließ mich nicht einen Augenblick aus ihren gläsernen, schwarzglänzenden Knopfaugen; mir wurde regelrecht mulmig.
„Macht sie das öfter?“, fragte ich Leni.
„Ach, das ist unsere Malwine; sie ist uns vor kurzem zugelaufen“, erklärte Leni stolz. „Zur Zeit ist sie ist die beste Legehenne im Stall, sehr zutraulich und un­heimlich klug. Beim Einsammeln der Eier weicht sie selten von meiner Seite. Dich findet sie heu­te wohl interessanter als mich.“
„PIA?“, flüsterte ich Leni hinter vorgehalte­ner Hand ins Ohr.
„Wie meinen?“
„Das ist die Abkürzung für Poultry Intelli­gence Agency“, klärte ich Leni auf. So'n ähnlicher Verein wie die CIA, d e r Ge­heimdienst in den Vereinig­ten Staaten. Vielleicht ist Malwine eine Geflü­gel-Spionin.
„Gockkock, gock­gockkock“, protestierte Malwine und schleu­derte ihr schlaues Köpfchen herum, wobei sie den in der Mathematik nicht un­bedeutenden Winkel von hundertachtzig Grad (Kongruenzsatz beim Dreieck; Winkel/Seite/Winkel, oder?) bis zum Äußersten ausreizte. Ich erlag für einen Moment der Versuchung, mich mit Zirkus Althoff in Verbindung zu setzen, um die Geburt eines neuen Sternchens am Akrobatenhimmel zu verkünden. Das Eulenvolk im Lachauer Forst – als absolute Rekordinhaber in dieser Disziplin (bis zu zweihundersiebzig Grad!) – wäre vor Neid geplatzt oder zumindest mit scheelen Augen vom Ast gekippt, hätte es Malwine bei dieser schrägen Num­mer beobachten können.
„Ja weißt du, Katja“, ging Leni auf meinen Scherz ein, „manchmal verhält sich Malwine wirklich eigenartig – als wolle sie mich kon­trollieren. Lach jetzt bitte nicht! Vielleicht hat Axel ihr irgendwas eingeflüstert. Wer kann's wissen? Das mit der CIA lese ich mir heute abend mal durch. Bedankst du dich auch immer bei deinem Lexikon, wenn du fündig geworden bist?“
„Da drängt sich mir so­gleich die Frage auf, was für ein Lexikon du dein Eigen nennst, Leni“, gab ich lachend zur Antwort.
„Eigentlich sind Hühner doch recht schüchterne Tiere, oder Leni?“, erkundigte ich mich.
„Schüchtern? Ach, ich weiß nicht, Katja. Auf mich wirken die meisten dieser Viecher, als wären sie permanent eingeschnappt, als fühlten sie sich ständig auf die Kehllappen (Hühnerschlipse) getreten. Manche Hennen führen sich auf, als seien sie wunder wie vornehm; aber neugierig sind sie fast alle und ja – auch irgendwie rührend anzusehen, wenn sie leicht pikiert und wichtigtuerisch über den Hof stelzen, als habe man sie zu einer Tagung der Nato geladen.“
Sie kicherte leise.

Behutsam tappten wir im Stall umher, um nicht auf die niedlichen Küken zu treten, die übermütig im Stroh umherwuselten. Für meinen Geschmack lag heute zu viel Hühnerkot auf der Spreu, die schon etwas durchgeweicht war, und ich ekelte mich ein wenig.
Knut ist sogar der Meinung, dass man den Hühnermist im Sommer täglich entfernen sollte, damit die armen Tiere und Leni nicht auf Gasmasken angewiesen seien. Ich konnte mich auch nicht daran erinnern, dass Knut die Hühner jemals so spät am Tag gefüttert hätte.

„Stell dich bloß nicht so an, Katja“, brummte Leni.
Sie zog den brütenden Hennen die Eier blitzschnell unter den Bürzeln hervor. Das verzweifelte Gegackere, mit dem die Betro­genen ihren Protest zum Ausdruck brachten, überhörte sie ge­flissentlich.
„Weshalb bist du heute so rabiat, Leni? Ist wieder viel zu tun im Haus? Ich helfe dir doch“, sagte ich.
„Ach, Katja“, rechtfertigte sich Leni gleichmütig, „manche Hennen vergessen während des Brütens sogar das Fressen. Dann muss man sie zum Füttern ja auch vom Nest heben, sonst würden sie verhungern.“
Heben, Christine. Dass ich nicht lache! Bei Lenis permantem Mangel an Zeit kann ich mir allenfalls ein Schubsen vorstellen.

Die Eier waren alle noch warm. Leni wollte Burgfrieden schließen und drückte mir ein Oval an die Wange. Ich war froh, als wir endlich fertig waren und das Hühner­haus verlassen konnten. Die süßliche, staubtrockene Luft war zum Er­sticken. Es war nicht nur deutlich zu sehen, sondern auch drastisch zu riechen, dass Knut nicht auf Lachau weilte.
Draußen im Gehege reinigten wir die Tröge, füllten sie mit frischem Trinkwasser und schütteten Ge­treidekörner, Möhren und andere Gemüseabfälle in die Futterkisten. Acht Hände voll feinstem Futter warf Leni in alle Himmels­richtungen unter das Federvieh, das im Hof flanier­te. Die Tiere ruckten die Köpfe hin und her und pickten mit den Schnäbeln nach wer weiß wonach. Ich wurde schon vom bloßen Hinschauen nervös.
„So, die Herrschaften sind bis heute Abend versorgt und hof­fentlich zu­frieden“, nickte Leni.
Wir schleppten die schweren Körbe einzeln in die Küche. Unterwegs fragte ich Leni, ob die Hennen nicht aus dem Lege- und Brutrhythmus kämen, wenn man ihnen so mir nix dir nix die Eier unterm Hühnerpopo wegklaute.
Ich konnte und wollte mir diese Frage nicht verkneifen, liebe Christine. Die Hühner taten mir wahnsinnig leid. Weder im letzten Jahr noch all die Jahre zu­vor ist mir bewusst geworden, wie drastisch sich Leni manchmal im Hühnerstall aufführte.
„Ach, Katja!“, wiederholte sich Leni, während wir über den Hof stapften, und seufzte ein paarmal tief, als hätte ich ein psychologisches Problem der heikelsten Sorte zur Sprache gebracht.
„Kannst du dir eigentlich vorstellen, was in der Küche an Arbeit auf mich war­tet? Ich kann mir weiß Gott nicht auch noch Sorgen um jedes einzelne Huhn machen. Ist dir eigentlich bewusst, dass jede unserer Hennen bis zu dreihun­dert Eier legt? – Im Jahr natürlich! Nicht im ganzen Leben, wie du vielleicht ge­rade angenommen hast! Ja, du brauchst gar nicht so zu gucken.“
Dreihundert Eier jährlich! Hättest du das für möglich gehalten, liebe Christine?
„Unser Federvieh findet draußen Beschäftigungsmög­lichkeiten in Hülle und Fülle“, fuhr Leni eifrig fort, als hielte sie ein Plädoyer zugunsten der Geflügel­haltung auf Lachau.
„Nicht eine einzige unserer Hennen hat jemals Federn oder gar die eigenen Eier gefressen, und das will bei diesem umfangreichen Bestand eine Menge heißen. Und Hühnerflöhe haben

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Ich wollte den Roman eigentlich „Katjas Briefe" nennen; aus diesem Grund habe ich das Titelblatt (s. unten) erstellt. Jetzt fungiert es als Zwischenblatt; habe bereits ein neues Titelblatt entworfen und stelle es euch demnächst hier vor. Danke fürs geduldige Lesen. Es wird mit jedem Kapitel etwas spannender noch, Annelie

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