Gefährlicher Sommer (Teil 6) - Page 2

Bild von Annelie Kelch
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wir auch nicht. So!“ Sie holte tief Luft.
„Allerdings müsste wirklich mal wieder der Stall aus­gemistet werden. Ich will noch heute mit Axel darüber sprechen. Zufrieden?“
Ich beschränkte mich auf ein knappes „Hhm“.
Knut hätte sich den Hühnerstall schon längst vorge­nommen; dazu brauchte ihn niemand aufzufordern, dachte ich voller Bitterkeit und harderte mit dem neuen Gutsverwalter.
Ich hatte die ganze Zeit über darauf gewartet, das Leni mich über Muttis neue Kleider (Hilfe!), meine Zeugniszensuren (Olala), unsere Wohnung und Papas Arbeit ausfragen würde, wie sie es manchmal beiläufig tat, wenn Oma mal wieder zu dick aufgetragen hatte, um ihrer besten Freundin zu imponieren; aber sie schien gott­lob weit davon entfernt zu sein, mir damit auf die Nerven fallen zu wollen.

Während des Mittagessens fasste ich mir endlich ein Herz und fragte Opa, wo Knut denn eigentlich sei (obgleich ich mich wahnsinnig vor der Antwort fürchtete). Ich hätte ihn überall wie verrückt gesucht: im Haus, auf dem Hof, in den Ställen ...
„Ja, ar­beitet er gerade auf irgendeinem Feld? Oder hilft er auf einem der Nachbarhöfe aus?“, fragte ich schließlich, als Opa nicht reagierte. Er versuchte nämlich vergeblich, sein Erschrecken zu verbergen, das ihm in die Glieder gefahren war, kaum, dass ich den Namen meines grau­köpfigen Kum­pels ausgesprochen hatte. Schließlich blickte er hilfesuchend zu Oma Anita hinüber, die ihren Kopf dermaßen weit über den Teller gebeugt hielt, als stünde die Antwort auf dessen Grund.
„Unser armer Knut ...“, seufzte Opa nach einer Ewigkeit und bekann­te nach einer langen Pause mit leiser, todtrauriger Stimme: „Unser guter alter Knut ist für immer von uns gegangen.“
Ich er­schauderte bei diesen Worten, die dermaßen feierlich klan­gen, als hielte ein Pfarrer eine ... oh nein ...
„Er ist doch nicht et­wa – gestor­ben?“, fragte ich zögernd und wagte kaum den Blick zu heben.
Opas Gesicht war leichenblass geworden.
„Doch, Katja“, seufzte er mit beklommener Stimme. „Knut ist in die ewigen Jagdgründe eingegangen.“
„Ja, war er denn krank? Woran ist er denn gestorben?“, fragte ich verstört und wandte mich an Oma, die mit großen Augen am Tisch saß. Mann, war das ätzend! Dass Oma keine Plaudertasche ist, weiß ich mittlerweile; aber seit wann musste man ihr jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen?
Mutti warf mir einen warnenden Blick zu, aber ich ließ nicht locker. Die Sache kam mir immer rätselhafter vor. Im letz­ten Sommer war Knut nämlich noch sehr lebendig gewesen, ebenso putzmun­ter wie die gute Frieda.
Ich beob­achtete, wie Opa seiner besseren Hälfte zunickte.
„Knut ist im Wald erschossen wor­den, unter ganz mysteriösen Umständen. Am letzten Freitag im November. Sein Mörder läuft immer noch frei herum“, stieß Oma mit empörter Miene hervor.
Auch ihr Gesicht war bei diesen Worten aschfahl gewor­den. Ich wusste, dass sie Knut sehr gern gehabt hatte. Mutti blickte fragend von einem zum an­deren.
„Wieso Mör­der?“, warf sie ein. „Es könnte doch auch eine Frau gewe­sen sein.“ Oma zog pikiert die rechte Augen­braue hoch, während sich mein leidgeprüftes Sommerherz schmerzhaft zusammenzog.
***
Nach der Mittagsruhe zogen Leni und ich den großen Leiterwagen aus dem Geräte­schuppen, luden die hohe Blechtonne und diverse Schüsseln hinein und kutschierten damit in den Obstbaumgarten. Die ausladenden Äste der unbeschnittenen, knorrigen Kirschbäume quollen schier über von dunkelro­ten Früchten. Sie ächzten und stöhnten unter der Last der süßen Kirschen; in der sommerschwülen Luft hing ein fruchtiger Duft. Herr Kröger hatte an vier der turmhohen Stämme lange Holzleitern ge­lehnt. Leni murmelte etwas von „Zuver­lässigkeit, was aber auch das Einzige sei.“
Ich war froh, dass wir die Leitern nicht über den Hof und durch die Allee schleppen mussten und dankte dem neuen Gutsverwalter insgeheim.
Leni reichte mir eine große Schüssel vom Wagen und kletterte auf den nächst­besten Baum.
„Spuck ja die Kerne nicht auf die Wiese“, warnte sie mich. „Die kleben ganz eklig an den Schuhsohlen.“
Es dauerte eine geraume Weile, bis der Boden meiner Pflückschüssel bedeckt war, denn die schönsten Kirschen landeten ohne jeden Umweg in meinem Mund. Sie waren saftig und schmeckten sehr süß. Einige Früchte hatten kleine Fleisch­wunden, die aber schon zugeheilt waren. Ich legte sie in die Schüssel zu den anderen.
Leni hielt sich zurück. Ich war mir sicher, dass sie noch keine einzige Kirsche probiert hatte. Überhaupt verhielt sich Leni an diesem Nachmittag merkwür­dig einsilbig, gar nicht wie die gute, lebhafte alte Leni, die immer alles kommentieren musste. Heute war anscheinend nicht gut Kirschen essen mit ihr.
Einerseits sah sie merkwürdig bedrückt aus, andererseits schien sie vor Wut zu platzen. Ich fragte mich, ob ihre schlechte Laune irgendetwas mit Knuts Tod zu tun haben könnte.
Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass Knut einen Feind hatte, der ihn so sehr hasste, dass er seinen Tod wollte. Kennst du einen solchen Menschen, liebe Christine? Mir wird ganz wehmütig ums Herz, wenn ich an unsere letzten Ferien denke, als wir mit ihm über die Felder gerit­ten und durch den Wald ge­streift sind. Er kannte ja jedes Pflänzchen und jedes noch so winzige Tier, wusste so­gar die lateinischen Namen auswendig, ohne erst im Lexikon nachschlagen zu müssen, wäh­rend ich bis heute noch nicht mal den tieferen Sinn linearer Un­gleichungssysteme be­griffen habe – sofern es einen solchen überhaupt gibt, obwohl wir mittler­weile bei der vektoriellen analytischen Geometrie angelangt sind, die mir zeit meines Lebens ein böhmisches Dorf bleiben wird. Die meisten Mädchen in meiner Klasse bekommen Nachhilfe in Mathe, aber Mutter Kleve meint, ich sei nur zu faul zum Lernen, insbesondere, was Mathe betreffe, womit sie nicht ganz unrecht hat. Wie ist d e i n Zeugnis eigentlich ausgefallen, du arme Kranke? Sind der Herr Oberst und deine allerliebste Mama zufrieden? – Die besten Zensuren habe ich nach wie vor in Deutsch, Englisch, Biologie, Kunst und Musik erzielen können. Alles andere kann meinetwegen eh der Teufel holen.
Erinnerst du dich noch an jenen Tag, als Knut uns die Wochenstuben der Wimpernfledermäuse im alten Kuhstall zeigte, Christine? Ihretwegen kam es doch damals zu einem heftigen Streit mit Frau Brandner, die den morschen Stall abreißen lassen woll­te, um Rosenbeete anzulegen. Drei Wochen lang sprachen sie kein einziges Wort mit­einander. Knuts Sturheit war grenzenlos, wenn er seinen Willen durchsetzen

Ich wollte den Roman eigentlich „Katjas Briefe" nennen; aus diesem Grund habe ich das Titelblatt (s. unten) erstellt. Jetzt fungiert es als Zwischenblatt; habe bereits ein neues Titelblatt entworfen und stelle es euch demnächst hier vor. Danke fürs geduldige Lesen. Es wird mit jedem Kapitel etwas spannender noch, Annelie

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Kommentare

05. Aug 2017

Stark entsteht hier eine Welt -
Welche dem Leser wohl gefällt!

LG Axel

05. Aug 2017

Dank, Axel, dir, für deinen Kommentar:
Es war wohl zweifelsohne eine schöne Welt,
in meinem Buch ein wenig zwar getrübt,
wie es nun mal im Leben ist - und immer war.

Liebe Grüße und ein schönes Wochenende,
Annelie

05. Aug 2017

Eine spannend geschriebene romanhafte Fortsetzungsgeschichte, die viel mit deiner Kindheit zu tun hat, ich warte auf den nächsten Teil, liebe Annelie,

liebe Grüße - Marie

05. Aug 2017

Danke, liebe Marie, du hast selber ein sehr umfangreiches und wunderbares Werk geschrieben (Mein Purpurroter Cousinot) und weißt, welche enorme Arbeit, Mühe und Zeit in solch ein Buch investiert wurde. Fortsetzung folgt übermorgen, am kommenden Montag.

Liebe Grüße und ein wundervolles Wochenende zu dir und ungestörte Lektüre bei der FAZ,
Annelie

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