Der Weihnachtsabend (auch eine Weihnachtsgeschichte) - Page 12

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kleinen Schelmen gar grausam mitgenommen. Was hätte ich darum gegeben, eines dieser Kinder zu sein, obgleich ich nimmer so ungezogen gewesen wäre. Nein, nein! für alle Schätze der Welt hätte ich nicht diese Locken zerdrückt und zerwühlt; und diesen lieben, kleinen Schuh hätte ich nicht entwendet, um mein Leben zu [57] retten. Im Scherz ihre Taille zu messen, wie die kecke, junge Brut that, ich hätte es nicht gewagt; ich hätte geglaubt, mein Arm würde zur Strafe krumm werden und nie wieder gerade wachsen. Und doch, wie gern, ich gestehe es, hätte ich ihre Lippen berührt; wie gern hätte ich sie gefragt, damit sie sich geöffnet hätten; wie gern hätte ich die Wimpern dieser niedergeschlagenen Augen betrachtet, ohne ein Erröthen hervorzurufen; wie gern hätte ich dieses wogende Haar gelöst, von dem ein Zoll ein Schatz über allen Preis gewesen wäre: kurz, wie gern hätte ich das kleinste Privilegium eines Kindes gehabt, mit der Bedingung, Mann genug zu sein, um seinen Werth zu kennen.

Aber jetzt wurde ein Klopfen an der Thür gehört, was einen so allgemeinen Sturz nach derselben veranlaßte, daß sie mit lachendem Gesicht und verwirrtem Anzug in der Mitte eines lärmenden Haufens nach der Thür gedrängt wurde, dem Vater entgegen, der nach Haus kam, in Begleitung eines Mannes mit Weihnachtsgeschenken beladen. Aber nun das Geschrei und das Gedräng und der Sturm auf den vertheidigungslosen Träger! Wie sie auf Stühlen an ihm hinaufstiegen, in seine Taschen guckten, die Papierpäckchen raubten, an seiner Halsbinde zupften, an seinem Halse hingen, ihm auf den Rücken trommelten und an die Beine stießen – Alles in unwiderstehlicher Freude! Dann diese Ausrufungen der Verwunderung und des Frohlockens, mit denen der Inhalt jedes Päckchens begrüßt wurde! Die schreckliche Kunde, daß das Wickelkind ertappt worden sei, wie es die Bratpfanne [58] der Puppe in den Mund gesteckt, oder wohl gar das hölzerne Huhn sammt der Schüssel hinuntergeschluckt habe! Die große Beruhigung, zu finden, daß es ein falscher Lärm gewesen sei! Die Freude und die Dankbarkeit und das Entzücken! Dies Alles ist über alle Beschreibung. Es muß genügen, zu wissen, daß die Kinder und ihre Freuden endlich aus dem Zimmer kamen und eine Treppe auf einmal hinaufgingen, wo sie zu Bett gebracht wurden und dort blieben.

Und als jetzt Scrooge sah, wie der Herr des Hauses, die Tochter zärtlich an seine Seite geschmiegt, sich mit ihr und ihrer Mutter an seinem eigenen Heerd niedersetzte; und wie er dachte, daß ein solches Wesen eben so lieblich und hoffnungsreich ihn hätte Vater nennen und wie Frühlingszeit in dem öden Winter seines Lebens hätte sein können, da wurden seine Augen wirklich trübe.

„Bella,“ sagte der Mann, sich lächelnd zu seiner Gattin wendend, „ich sah heut Nachmittag einen alten Freund von Dir.“

„Wer war es?“

„Rathe.“

„Wie kann ich das? Ach, jetzt weiß ich,“ fügte sie sogleich hinzu, lachend, wie er lachte. „Mr. Scrooge.“

„Ja, Mr. Scrooge. Ich ging an seinem Comptoirfenster vorüber; und da kein Laden davor war und er Licht drin hatte, mußte ich ihn fast sehen. Sein Compagnon liegt im Sterben, hörte ich, und er saß allein dort. Ganz allein in der Welt, glaube ich.“

[59] „Geist,“ sagte Scrooge mit bebender Stimme, „führe mich weg von diesem Orte.“

„Ich sagte Dir, daß dieses Schatten gewesener Dinge wären,“ sagte der Geist. „Gieb mir nicht die Schuld, daß sie so sind, wie sie sind.“

„Führe mich weg!“ rief Scrooge aus. „Ich kann es nicht ertragen.“

Er wandte sich gegen den Geist, und wie er sah, daß er ihn mit einem Gesicht anblickte, in welchem sich auf eine seltsame Weise all die Gesichter zeigten, die er gesehen hatte, rang er mit ihm.

„Verlaß mich, führ’ mich weg. Umschwebe mich nicht länger.“

In dem Kampfe, wenn das ein Kampf genannt werden kann, wo der Geist, ohne einen sichtbaren Widerstand von seiner Seite, von den Anstrengungen seines Gegners ungestört blieb, bemerkte Scrooge, daß das Licht auf seinem Haupte hoch und hell brenne; und in einem dunklen Instinkt jenes Licht mit des Geistes Einfluß auf sich verbindend, ergriff er den Lichtauslöscher und stülpte ihn auf des Geistes Haupt.

Der Geist sank darunter zusammen, so daß der Lichtauslöscher seine ganze Gestalt bedeckte; aber obgleich Scrooge ihn mit seiner ganzen Kraft niederdrückte, konnte er das Licht nicht verbergen, welches darunter hervor und mit hellem Schimmer über den Boden strömte.

Er fühlte, daß er erschöpft sei und von einer unüberwindlichen Schläfrigkeit befallen werde und wußte, daß er in [60] seinem eignen Schlafzimmer sei. Er gab dem Lichtauslöscher noch einen Druck zum Abschiede und fand kaum Zeit, in das Bett zu wanken, ehe er in tiefen Schlaf sank.

Drittes Kapitel.
Der Zweite der drei Geister.

Scrooge erwachte mitten in einem tüchtigen Geschnarch und setzte sich in dem Bette in die Höhe, um seine Gedanken zu sammeln. Diesmal hatte Niemand nöthig ihm zu sagen, daß es gerade Eins sei. Er fühlte, daß er gerade zu der rechten Zeit und zu dem ausdrücklichen Zwecke erwacht sei, eine Conferenz mit dem zweiten an ihn durch Jacob Marley’s Vermittelung abgesandten Boten zu halten. Aber bei dem Gedanken, welche seiner Bettgardinen wohl das neue Gespenst zurückschlagen würde, wurde es ihm ganz unheimlich kalt, und so schlug er sie mit seinen eigenen Händen zurück. Dann legte er sich wieder nieder und beschloß, genau aufzupassen, denn er wollte den Geist in dem Augenblick seiner Erscheinung anrufen, und wünschte nicht überrascht und erschreckt zu werden.

Leute von keckem Muthe, die sich schmeicheln, es schon mit etwas aufnehmen zu können, und immer an ihrem Platze zu sein, drücken den weiten Bereich ihrer Fähigkeiten mit den Worten aus: Sie wären gut für Alles, vom Brotessen bis zum Menschenverschlingen; zwischen welchen beiden Extremen [61] ohne Zweifel ziemlich viel Gelegenheit zu Darlegung ihrer Kräfte liegt. Ohne gerade zu behaupten, daß Scrooge es so weit gebracht hätte, muß ich doch von dem Leser den Glauben fordern, daß er auf ein recht schönes Sortiment von Erscheinungen gefaßt war, und daß nichts zwischen einem Wickelkind und einem Rhinoceros ihn sehr staunen gemacht haben würde.

Eben weil er auf fast Alles gefaßt war, war er nicht vorbereitet, Nichts zu sehen; und so, als die Glocke eins schlug und keine Gestalt erschien, überfiel ihn ein heftiges

A Christmas Carol in Prose, Being a Ghost-Story of Christmas (wörtlich Ein Weihnachtslied in Prosa, oder Eine Geistergeschichte zum Christfest, deutsch meist Eine Weihnachtsgeschichte) ist eine der bekanntesten Erzählungen von Charles Dickens. Sie wurde im Dezember 1843 mit Illustrationen von John Leech erstmals veröffentlicht.

Veröffentlicht / Quelle: 
Der Weihnachtsabend. J. J. Weber, 1844

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