Marie stand auf, nahm ihrer Handtasche und lief vom Schlafzimmer durch einen langen Flur, dessen Wände mit wertvollen Kupferstichen überzogen waren, zu einer Treppe, die in einen großen Wohnraum führte. Dort gelangte sie durch eine Schiebetüre auf die großzügig angelegte Terrasse.
„Na, wie geht’s? Ist’s bekommen?“
Er hatte aus dem Vorratsraum eine Weinflasche geholt und trat auf die Terrasse. Marie schaute an ihm vorbei.
„Der Garten hat sich verändert“, meinte sie, „dort, der Feuerdorn ist neu. Auch der Steingarten drüben ist neu.“
„Kann schon sein. Du bist ja selten hier“, sagte er, „außerdem kümmert sich meine Frau um den Garten.“
Marie setzte sich auf die vordere Kante eines weißen Gartenstuhls und wippte hin und her.
„Was möchtest du trinken?“ fragte er und entkorkte eine Weinflasche, roch daran und goss sich ein Glas voll.
„Gib mir auch von dem Wein.“
Marie hielt ihm ein Glas hin, und der Wein gluckste ins Glas, und hinter der hohen Hecke, die sich um das Grundstück zog, knatterte ein Mopedfahrer vorbei. Der Garten war für hiesige Verhältnisse recht groß. Er mochte gut und gerne seine tausend Quadratmeter haben.
‘Was soll’s, der Krach reicht bis in die Villenviertel rein’, dachte Marie. Es war noch ein später Sommertag und die Laubbäume waren schon angegilbt, und ein bisschen dunstig war’s den ganzen Sommer über gewesen. Marie rieb sich die Arme, denn der Wind war frisch. Sie schaute auf die Uhr. Der große Zeiger rückte unmerklich auf Zwölf, der kleine stand still auf der Acht. In einer Stunde würde es schon dunkel sein. Marie lehnte sich zurück. Er zerkaute einen Schluck Wein, rollte die Augen, schluckte und schmatzte.
„So still?“ fragte er. „Was ist los?“
„Weiß nicht“, sagte Marie.
„Natürlich weißt du’s. Nun sag schon.“
„Ich wünsch mir was“, sagte Marie.
„Was?“
„Ich wünsch mir jetzt und hier nur einen, einen einzigen redlichen Menschen“, flüsterte Marie. Plötzlich fiel ihr der Spruch von Berthold Brecht ein und der wollte nicht mehr aus ihrem Kopf raus.
'Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an, und der Arme sagte bleich – wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.'
„Jetzt und hier, nur einen einzigen redlichen Menschen“, betonte sie.
„Was soll das heißen?“
Er saß da und grinste sie an, und wieder zerschmatzte er seinen Wein.
„Das, was ich sage.“
„Was ist, bitte sehr, für dich ein redlicher Mensch?“
Sein Grinsen war breiter geworden, und er hatte seine Hand auf ihr Knie gelegt.
„Du verstehst nichts. Nichts kannst du verstehen“, murmelte Marie.
Er lehnte sich im Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander.
„Du bist und bleibst eine kleine Träumerin.“
„Bitte sei still. Sei sofort still!“
Marie sah an ihm vorbei. Er schaute immer noch in ihr Gesicht und grinste. Und fünfzehn Kilometer weiter, im Osten des Ruhrgebiets, stand eine alte Frau und sah zum Himmel. Wolken zogen und machten die Sonne dunkel. Und eine Wolke von Ammoniak stieg hoch und löste sich langsam auf. Polizeiwagen mit Lautsprechern waren unterwegs, und viele Menschen, sehr viel alte darunter, standen vor der Ambulanz, hatten feuchte Tücher vor den Gesichtern, und ihre Körper wurden von Hustenkrämpfen geschüttelt. Der Bezirk, wo die Giftgaswolke entweichen konnte, wurde vorübergehend abgesperrt.
Marie hatte sich den Radiorecorder, der auf dem Tisch stand, angestellt und hörte die Warnung.
„Ist nicht weit weg“, bemerkte er.
„War das nicht erst vor einer Woche?“ fragte Marie.
„Dummchen, das ist ein neuer Fall“, erwiderte er.
„Verdammt! Da reißt du deine Fenster auf, gierst nach Luft und freust dich, weil Sommer ist. Und plötzlich bekommst du einen Hustenkrampf“, schimpfte Marie.
„Nun übertreibe nicht. Denk einmal nach, gibt es irgendetwas umsonst?“
„Wieso? Was hat das damit zu tun?“
Marie war aufgestanden und lief die Terrasse auf und ab.
„Ganz einfach. Das ist der Preis, den wir für unsere Lebensart zu zahlen haben.“
„Hat man uns gefragt?“ empörte sich Marie.
„Du sitzt im gleichen Boot, also warum das Lamento?“ meinte er und griff nach seinem Glas. „Außerdem kannst du sowieso nichts ändern. Sieh nur zu, dass du deinen Brocken vom Leben mitkriegst. Alles andere soll dir doch wurscht sein.“
Er strich ihr über die Schultern, die Oberarme hinunter. Marie wich zur Seite aus.
„Siehst du, deshalb hab ich mir eben etwas gewünscht“, sagte sie leise.
„Ich versteh’ nicht“, maulte er.
„Denk jetzt bitte einmal nach.“
„Ach so. Herrje, bist du kindisch. Schlag ein Märchenbuch auf, da findest du auf mindestens jeder dritten Seite deinen guten Menschen.“
„Soll das heißen, dass du nicht an ihn glaubst?“
Marie blieb stehen, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute auf einen Punkt neben seinem Kopf.
„Das hast du gesagt.“
Er grinste immer noch.
„Verdammter Zyniker.“
Maries Stimme war hart geworden, und sie starrte auf den Boden, wo eine Ameise einen toten, mindestens doppelt so großen Käfer wegschleppte. Marie setzte kurz ihren Fuß darauf, und drum herum krabbelten immer neue Ameisen, und Marie trat noch einige Male zu.
„Schau dir die Natur an“, sagte er, „das Starke und das Anpassungsfähige, das überlebt.“
„Wenn das so ist, zum Teufel mit der Moral. Hoch lebe die Anpassung!“
Marie schritt erneut die Terrasse ab.
„Siehst du, langsam dämmert’s bei dir.“
Er schnipste mit den Fingern, stand auf und legte seinen Arm um Maries Schultern.
„Aber was ist, wenn alle so denken?“ fragte Marie.
„Alle denken nicht so. Wenn alle so dächten, dann würden wir mit unserem gut funktionierenden Staat bald baden gehen. Weißt du, wir brauchen den braven Bürger, den redlichen Menschen, wie du so lieb gesagt hast, denn der sorgt dafür, dass alles weiter so läuft, wie’s läuft. Und der verkraftet so Leute wie uns. Kapierst du?“ erklärte er.
„So Leute wie uns?“ fragte Marie.
Er tätschelte ihren Kopf, und Marie hatte ein blasses Gesicht.
„Spinnst du immer noch?“ fragte er.
„Ich wünsch mir was“, sagte Marie. Sie war sehr bleich, und sie fror erbärmlich. Und sie war sehr jung.
Niemals mehr würde sie ihn ansehen. Wie eine Giftgaswolke würde er sich auflösen, dabei einen beißenden Geschmack hinterlassen. Sie würde husten und husten, sie würde ihn aus sich heraushusten.
Sie war sehr jung.
Ich wünsch mir was
von Monika Laakes
Veröffentlicht / Quelle:
Publ. 2000
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