Ich erinnere mich noch genau an jenen Tag, an dem ich meine erste Lüge aussprach. Es geschah an einem kalten Wintermorgen, kurz vor Weihnachten. Der Schnee auf den Wiesen vor der Elbe lag mindestens einen halben Meter hoch: eine eisige weiße Decke, die sich kilometerweit bis zum Ufer erstreckte.
Ich war damals acht Jahre alt, und meine Mutter wollte eines feierlichen Adventsmorgens wissen, weshalb ich unbedingt zur ersten Stunde in die Schule wolle, obgleich auf meinem Stundenplan die zweite Stunde als Unterrichtsbeginn eingetragen war.
Ohne mit der Wimper zu zucken, erklärte ich ihr, dass wir ausnahmsweise zur ersten Stunde in die Schule müssten, weil der Schuldirektor käme, um uns Kinder zu prüfen.
Das war eine glatte Lüge. – Ich wollte mit einer Klassenkameradin, deren Eltern einen Bauernhof in der Nähe der Schule besaßen, den Deich hinunterrodeln – immer wieder und wieder – eine ganze wunderschöne Stunde lang. Sie hatte mich dazu eingeladen, und ich wusste genau, dass meine Mutter für dieses harmlose Vergnügen zu so früher Stunde kein Verständnis aufbringen würde.
Gott, von dem ich damals noch zaghaft glaubte, dass er mich postwendend bestrafen würde, sobald ich diese dreiste Lüge vom Stapel gelassen hatte, schwieg. Es geschah absolut nichts. Es zog weder ein fürchterliches Gewitter auf, wie man mir im Hinblick auf Lügen in Aussicht gestellt hatte, noch tat sich die Erde auf, um mich zu verschlingen. Ich war einigermaßen empört darüber, dass meine Eltern mich derart beschwindelt hatten.
Die Rodelpartie im Morgendämmer, darin allein der weiße Schnee wie ein überdimensionaler Diamant funkelte, war „ein Gedicht im Advent“ und hat sich als unvergessliches Erlebnis in meinem Gedächtnis manifestiert, obgleich es über zwei Stunden gedauert hatte, bis unsere Kleidung wieder trocken war und wir während des Unterrichts gebibbert haben wie zwei deutsche Hühner in der Ostantarktis. Im Klassenzimmer hing der Geruch von nassen Kleidern über unseren Köpfen, aber niemand nahm Anstoß daran.
Am nächsten Tag hatte ich Fieber und durfte zu Hause bleiben, was mich ungemein entzückte und mir endlich zur ungestörten Lektüre jenes Romans verhalf, den mein Vater mir aus unerfindlichen Gründen bis dato vorenthalten hatte.
Das Werk hieß „Ostwind-Westwind“, wurde 1930 von Pearl S. Buck geschrieben, und handelte von einer jungen Chinesin, die mit einem in den USA ausgebildeten Mann verheiratet war und den Zusammenstoß östlicher und westlicher Wertemuster erleben musste.
Ich verschlang diese wunderbare Geschichte an jenem Vormittag in einem Rutsch – und war begeistert. Als meine Mutter von der Arbeit nach Hause kam, glühte mein Kopf wie ein hohler Kürbis, darin ein rotes Licht flammte, und ich bekam heißen Zitronensaft, Wadenwickel und einen Weihnachtsmann aus Schokolade.
Trotz dieser überaus guten Erfahrung, was das Lügen anlangt, habe ich hernach jedoch nur mehr selten geflunkert, und manchmal denke ich, dass sich alles nur deshalb so gefügt hat, weil Gott und/oder das Schicksal es unbedingt wollten, dass ich dieses hervorragende Buch lese.