Fortsetz. v. Sonntag, den 11. Dez. 2016, Im Dickicht der Zeichen; Nora Meranes 1. Fall, ein Krimi

Bild von Annelie Kelch
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Marc wollte gar nicht wieder aufhören mit der Küsserei, schien total ausgehungert zu sein, wollte unbedingt mit mir in sein Appartment neben dem gruseligen Finstergang.
„Zu mir oder zu dir bleibt gleich, solange ich in deiner Wohnung lebe“, scherzte ich. „Aber ich möchte die Vernehmung in Hamburg so schnell wie möglich hinter mich bringen. Morgen früh muss ich nämlich nach Hellerburg ins Krankenhaus. 'Lassie' ist wieder bei Bewusstsein; ich habe soeben mit Stefanie telefoniert, während du Hansen letzte Order erteilt hast.“
„Letzte Order?“, wiederholte Marc. „Hört sich an wie der Titel eines spannenden Kriminalromans.“
„Mein ganzes Leben fühlt sich an wie ein einziger Kriminalroman, seit ich in Hellerburg bei der Kripo arbeite“, sagte ich. „Ich denke kaum noch an etwas anderes als an Verbrechen – begangen von wildfremden Menschen. Und die ebenfalls wildfremden Opfer sind meine Familie. Das ist alles hoch spannend, bereitet mir jedoch nicht selten schlaflose Nächte. In welchem Hamburger Stadtteil lebt eigentlich dieser Onkel von Leander?“
„Arnulf Koska wohnt im schönen Blankenese“, sagte Marc. „Vermutlich in irgendeinem Wohnblock. Er hat auf mich nicht den Eindruck gemacht, als sei er reich, ganz im Gegenteil, drückte sich ziemlich vulgär aus am Telefon, der alte Knabe.“
„Das hat nichts zu bedeuten“, erwiderte ich. „Wenn du wüsstest, wie viele vulgäre Reiche es auf dieser Welt gibt.“
„Was hat dieser Koska denn so geplaudert an der Strippe?“
„... dass Leander bereits seit einem Jahr bei ihm wohne und auf einer Werft im munteren Stadtteil St. Pauli arbeite. Sein 'lieber' Neffe sei ein fleißiger junger Mann, der ihm bis dato keinerlei Scherereien bereitet habe. Ich habe ihn gefragt, ob er wisse, wo Leander sich zur Zeit aufhalte, aber Koska hatte offenbar keinen blassen Schimmer; er sei gerade erst von einer Radon-Kur aus Travemünde zurückgekehrt.“
„Radon-Kur?“
„Das ist eine Kur für chronische Schmerzpatienten; ich habe mich im Internet schlau gemacht“, sagte Marc.
„Hast du Koska gefragt, ob er Brenda Bohlau kennt?“
„Selbstverständlich“, sagte Marc. „Koska will den Namen noch nie in seinem Leben gehört haben.“
Ich seufzte; womöglich war unsere Fahrt nach Hamburg total zwecklos.
('Mein Name ist Hase; ich weiß von nicht', war die häufigste Redensart, die wir in unserem Beruf zu hören bekamen – meistens von Leuten, die tief im Sumpf des jeweiligen Falles steckten; ich glaubte diesem 'Arnulf Koska kein Wort – obwohl ich bis dato nicht mal die Gelegenheit hatte, auch nur einen einzigen Blick auf ihn zu werfen.)
„Damals“, begann ich, „als Brenda plötzlich verschwunden war, Frau Falkner erzählte davon, erinnerst du dich? Damals hatte sie ...“
„Ich weiß, worauf du hinauswillst, Nora“, fiel Marc mir ins Wort.
„Wir müssen unbedingt das Klassenbuch einsehen, sofern es noch vorhanden ist. Ich werde morgen unserer alten Schule einen Besuch abstatten, während du Stefan deine Aufwartung machst. - Ich selber kann es ja definitiv gar nicht wissen, weil ich damals schon nicht mehr auf eure Schule ging, aber du – ist dir noch in Erinnerung, ob Brenda längere Zeit dem Unterricht ferngeblieben war?“
„Nein“, sagte ich, „aber ich kann mich an etwas anderes erinnern.“
„Nämlich?“, fragte Marc.
„Dass sie einen Sommer lang ziemlich dick war – als sei sie schwanger. Damals hat sie auffällig oft genascht, vor unseren Augen, beinah' demonstrativ, als sollten wir das unbedingt mitbekommen. Fred hat einmal während einer Freistunde zu ihr gesagt: 'Brenda, bist du nicht schon fett genug? Wenn das so weiter geht mit deiner Nascherei, passt du bald nicht mehr durch die Tür zum Klassenzimmer.' - 'Na und, ist das dein Problem', hat Brenda erwidert. 'Dann bleibe ich eben draußen. Ist ja gottlob Sommer und nicht kalt.'“
„Denkst du dasselbe wie ich?“ fragte Marc.
„Falls du der Meinung bist, dass Brenda schwanger war ...“
„Genau dieser Meinung bin ich“, sagte er. „Fahr doch mal bitte rechts ran auf den Standstreifen.“
„Ist verboten, Marc. Wir fahren jetzt zügig durch nach Hamburg. Du wirst dich gedulden müssen.“
„Womit?“, fragte Marc und grinste wie ein Honigkuchenpferd.
„Woher willst du wissen, was ich wollte, Nora? Da scheppert irgendetwas am rechten Hinterreifen.“
„Bis 'Abzweig Veddel' sind es allerhöchstens noch knappe 600 Meter“, sagte ich und wechselte auf den Verzögerungsstreifen. „Hoffentlich geraten wir nicht in einen Stau.“
„Aber wo könnte sich das Kind befinden, das Brenda möglicherweise geboren hat?“, fragte Marc.
„Im Apfelgarten“, sagte ich, „und eben aus diesem Grund werde ich Leichenspürhunde anfordern, die das Gelände absuchen.“
„Ob das Kind von Falkner war?“ Marc sah mich prüfend von der Seite an.
Ich wäre vor lauter Überraschung beinahe von der Fahrbahn abgekommen.
„Wie kommst du darauf? Ist das nicht ein bisschen zu weit hergeholt?“
„Weshalb?“, fragte Marc. „Ich denke, ich liege richtig mit der Vermutung, dass Falkner von Brenda Sex erpresst hat.“
„Ja, hat er“, gab ich zu. „Johann Falkner hat mir gebeichtet, dass er sich in Brenda verliebt hat und scharf auf sie war. Er hat darüber hinaus wohl auch gedacht, Brenda sei ein leichtes Mädchen, sich aber ganz gewaltig in ihr getäuscht. Brenda war nicht so. Leander Koska war ihre erste großen Liebe. Nur aus diesem Grund hat sie sich ihm hingegeben.“
„Und wer war d e i ne erste große Liebe, Nora?“, fragte Marc.
„'Brumm', mein kleiner brauner Teddy“, sagte ich. „Und deine?“
„Meine älteste Schwester Silvana und danach kamst du“, sagte Marc.
„Das verstehe ich gut. Deine Schwester sah damals auch wirklich ganz bezaubernd aus. Wir Mädchen haben sie alle bewundert - so sehr, das Imke und ich einmal hinter ihr hergepfiffen haben, wie zwei verliebte Jungs.“
„Ihr habt ja beide auch zeitweise wie Jungs ausgesehen, Imke und du. Streichholzkurze Haare und meistens in Jeans und Holzfällerhemden.“
„War echt bequem, dieser Look, Marc“, sagte ich.
„Stand dir damals auch gut, Nora; aber wie du jetzt die Haare trägst, gefällt mir noch besser.“
„Mir wird ganz schlecht, wenn ich nur daran denke, dass Brenda während der Schulzeit ein Kind geboren und getötet haben könnte. Das muss die Hölle für sie gewesen sein.“
„Das Kind könnte sowohl von Falkner als auch von Leander gezeugt worden sein“, spann Mark den Faden weiter. „Und dieser Falkner kann nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden.“
„Gott sei Dank“, sagte ich. „Der alte Mann hat genug gelitten. Von seiner Frau Marga einmal ganz zu schweigen. Wenn die alte Dame die Wahrheit erfährt, will sie auch nicht mehr leben; deshalb müssen wir unbedingt verhindern, dass sie mit diesem Schmutz konfrontiert wird.“
„Sofern Leander Brendas Mörders ist, wird das wohl kaum zu verhindern sein. Der wird Falkner schwer belasten, um seinen eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.“
„Deshalb müssen wir die Leiche des Kindes finden. Ich werde morgen beantragen, dass Leichenspürhunde eingesetzt werden.“
„Kann man nach so vielen Jahren noch Spuren nachweisen, die DNA enthalten?“, fragte Marc.
„Ja“, sagte ich, „wenn man Glück hat. Möglicherweise finden sich zwischen Fingern und Zehen noch Zellkerne, die Farbstoffe aufnehmen, mit denen man DNA spezifisch markieren kann.- Ich muss mich da selber noch schlau machen, könnte sein, wir finden darüber hinaus ein Werkzeug, das DNA aufweist. Allerdings ist das Milieu dort eher feucht und leider 'gut' geeignet, DNA zu zersetzen.“
„Lass uns noch einen Kaffee trinken, bevor wir Koska aufsuchen“, bat Marc und strich mir über die Wange.
„Wir sind gleich da, Marc. - Wie hieß nochmal die Straße in Blankenese?“
„Avenariusstraße 55“, sagte Marc. „Ich bin beleidigt.“
„Dazu ist jetzt keine Zeit. Trägst du eine kugelsichere Weste?“
„Weshalb?“, fragte er. „Glaubst du an eine Schießerei?“
„Man kann nie wissen“, sagte ich und bog in die Avenariusstraße ein, die von stattlichen weißen Villen gesäumt war.
„Hier ist es; wir sind da, Marc, endlich“, sagte ich und parkte den Wagen auf einem kleinen Parkplatz neben dem Gebäude.
Die Villa erstrahlte im weißen Glanz, als sei sie erst vor wenigen Stunden frisch getüncht worden. Sie verfügte über zwei Stockwerke und zwei Loggien zur Straße hin. Vermutlich befanden sich auf der Rückseite des Gebäudes die gleiche Anzahl von Balkonen, wenn nicht gar noch mehr. Die Fenster waren nachträglich in das Gebäude eingelassen worden: Sie wirkten hochmodern und reichten von der Decke bis zum Boden.
„Piekfeine Gegend“, sagte Marc. „Hätte ich dem Onkel nach unserem Gespräch gar nicht zugetraut.“
„Wohnt der hier etwa alleine?“, fragte ich.
„Sieht fast so aus.“ Marc drückte auf das einzige Klingelschild an der Wand neben der Eingangstür mit dem Namen 'Koska', Calligraph 810 BT in Goldlettern. Drinnen ertönte ein beeindruckender Gong, aber es rührte sich nichts – weder nach dem ersten noch nach dem dritten Läuten.
Wir liefen ums Haus.- Die Terrassentür stand sperrangelweit offen. Ich zog meine Waffe aus dem Holster und entsicherte sie.
„Bleib du hier draußen, Marc - und behalte auch die Vorderfront im Auge, falls jemand türmen will“, sagte ich und stürmte die schicke Bude, bevor Marc protestieren konnte.
Ich bewegte mich lautlos durch die fast leeren Räume, richtete meine Waffe in jeden toten Winkel. Die Zimmer waren modern, aber äußerst spärlich eingerichtet.

Die Villa war menschenleer, sämtliche Räume waren „sauber“ - ín doppelter Hinsicht. Im Erdgeschoss befand sich eine Eisentür, die vermutlich in den Keller führte. Ich öffnete sie und stieg die Zementtreppe hinab in das tiefe Gewölbe. Unter der Decke hing eine trübe Funzel, die wenig Licht spendete. Ich rutschte auf einer der letzten Stufen auf etwas Glitschigem aus und fiel auf den Steinfußboden. Mir glitt die Waffe aus der Hand, und im nächsten Moment starrte ich in ein Gesicht, das mir sehr bekannt vorkam: Marc – und auch wieder nicht; aber er trug Marcs Kleidung, seine braune Lederjacke und die schwarzen Jeans, seine weißen Adidas-Turnschuhe und das hellblaue Polo-Shirt. Das Letzte, was ich fühlte, war der stechende Schmerz, der von einem Schlag auf meinen Hinterkopf rührte, vermutlich ausgeführt mit dem Aluschaft meines Revolvers. Danach sah ich nur noch Sterne - wunderschön anzusehen: Andromeda, Kassiopeia, Pegasus – und nicht zuletzt 'den Großen Hund', der mich kampfunfähig und lahm gelegt hatte.

Fortsetzung am Sonnabend, den 17. Dezember

Interne Verweise

Kommentare

14. Dez 2016

Spannung und Humor -
Ein Lob für den Autor!
(Nur Krause reagiert VERStört:
"Alle Räume sauber?! Noch nie jehört!")

LG Axel

14. Dez 2016

Das Lob gebe ich gerne weiter:
an Axel Englert, immer nett und heiter;
selbst noch am Abend spät,
wenn für die meisten 'nichts mehr geht'.

LG Annelie