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um einen Sack voll Heilkräuter zu schneiden.“
„Aber Meister“, sprach Yi. „So viele gingen schon in die Berge, um sie Kräuter ins Tal zu bringen. Doch das einzige, was sie fanden, war Stille in den lichten Höhen.“
„So kamen sie den Erleuchtung ein Stück näher und die Nachahmung ist der einfachste Weg. Ich wünsche dir viel Glück bei deiner Suche.“
Meister Wu lächelte seinem Schüler zu. Yi verneigte sich tief und ging ins Haus, den Sack und die Sichel zu holen. Derweil sah Meister Wu über die Wipfel der Bäume in die Sonne, deren Glanz einen schönen Tag für das Tal verkündete.
Die Weisheit der Gelassenheit
Einmal im Jahr fand in dem Dorf ein Jahrmarkt statt. Wie überall auf der ganzen Welt kamen die Bauern des umliegenden Landes zu diesem Tage zusammen. Sie staunten über Jongleure und ließen sich von den phantasievollen Aufführungen des Theaters verzaubern.
Sie schlenderten an den Ständen vorbei, an denen die Händler ihre Waren feilboten und trafen sich im Teehaus zu einer würdevollen Pause. Manche von ihnen nutzten die Gelegenheit auch, ihr Glück beim Würfelspiel zu suchen, und wenn sie des Abends nach Hause schlichen, so blieb ihnen nichts weiter als das Loch in der Hosentasche, das nun schwerer wog als die Käschmünzen, die sie am Morgen zum Jahrmarkt getragen hatten.
Auch die Schüler des Meisters Wu freuten sich auf diesen Tag, zumal sie alle an diesem Tag ins Dorf gehen wollten und somit die Gelegenheit bekamen, ihre Familien zu besuchen.
Bereits früh am Morgen hatten sie sich in ihre schönsten Gewänder gekleidet und warteten auf ihren Meister, der ihre kleine Gesellschaft anführen sollte. Meister Wu ließ auf sich warten. Schließlich aber erschien er doch, vergrub die Hände in den Ärmelaufschlägen seines Gewandes und nahm den Weg hinunter in Richtung des Dorfes.
Die Einheimischen bestaunten den Trupp, als er über den staubigen Pfad die Berge herunterschritt. Meister Wu achtete nicht darauf und seine Schüler warfen nur einige wenige verstohlene Blicke um sich. Aber sie wagten es nicht, die Reihe hinter dem Meister zu verlassen.
Sie sahen all die Lustigkeit des Jahrmarktes; Meister Wu jedoch ging an ihnen achtlos vorbei bis zu dem Brunnen, welcher sich in der Mitte des Dorfes befand. Dorthin setzte er sich und blinzelte zufrieden in die Sonne. Die Schüler standen um ihn herum und warteten.
Es dauerte nicht lange, bis ein Bauer kam und den Meister um Rat fragte.
„Werter Meister Wu“, begann der Bauer schüchtern und verbeugte sich mehrmals tief, dass seine Stirn fast den Boden berührte. „Ihr seid der Weiseste im ganzen Reich. So komme ich zu euch, der mir sicherlich helfen kann.“
„So sprecht, mein lieber Bauer“, nickte Meister Wu würdevoll. „Was ist euer Begehr?“
Wieder verneigte sich der Bauer tief und einen Augenblick schien er zu zögern. Dann aber sagte er:
„Den ganzen Morgen spiele ich nun schon Würfel und habe fast alles bereits verloren. Oh, wie wird meine Frau mich schimpfen, wenn ich nach Hause komme. So sagt mir, werter Meister, was kann ich nur tun?“
„Dies ist wahrlich eine arge Bedrängnis“, sagte Meister Wu, als er eine Weile darüber nachgedacht hatte. „Doch ist auch in dieser Lage ein Rat besser als alles Gold der Welt. So verdoppelt euren Einsatz bei jedem Mal wenn ihr verliert. So mögt ihr, wenn ihr gewinnt, den Verlust sogleich ausgeglichen haben. Das Glück ist niemand hold und wechselt wie es mag. Seid versichert, dass es sich auch eurer erinnern wird.“
„Ein wahrlich guter Rat“, sagte der Bauer und verneigte sich erneut tief.
Eiligst lief er hinüber zu den Männern, die um die Würfel vereint standen und in ihr Spiel vertieft waren. Die Schüler hatten diese Szene beobachtet. Als Meister Wu wieder zufrieden in die Sonne blinzelte, fragte Yi:
„Aber Meister, warum habt ihr den Bauern wieder zurück zu dem Spiel geschickt. Heißt es nicht, dass Emotionen unsere Gedanken vernebeln? Und ist nicht das bewusste Nicht-Tun ein wirksames Mittel der Verteidigung?“
„Wie wahr du gesprochen hast, mein lieber Schüler“, bestätigte Meister Wu.
Yi aber war über seine Ausführungen so begeistert, dass er hinzufügte:
„Ein wütender Mensch übt sich in Gewalt. Aber er hat keine Kontrolle über die Situation und die Konsequenzen seines Handelns. Das Nicht-Tun siegt, wenn es mit der richtigen Entschlossenheit eingesetzt wird.“
Meister Wu sann einen Augenblick über die Worte nach. Dann aber hob er den Kopf in Richtung seines Schülers.
„Mein lieber Yi, aus dir spricht die Weisheit“, sagte er. „So gehe zurück und meditiere in deinem Zimmer bis zum Abend.“
„Aber Meister, wir wollten doch alle den Jahrmarkt genießen“, begehrte Yi auf.
Meister Wu sah ihn an und lächelte.
„Emotionen, mein lieber Yi, vernebeln unseren Geist. Ein wütender Mensch hat keine Gewalt über sich. So gehe und übe dich, deine Emotionen zu zügeln. Wenn das Verlangen über dich kommt, so tue und sage nichts. Atme langsam ein und aus und warte, bis dein Geist wieder ruhig und klar ist.“
Daraufhin senkte Yi den Kopf, wandte sich um und trottete in Richtung des lieblichen Tales davon.
Die anderen Schüler übten sich in der Weisheit und sagten nichts. Ihnen war der Jahrmarkt an diesem Tage lieber.
Die Weisheit der Langsamkeit
Als der Winter über die Berge kam, versammelte Meister Wu seine Schüler in dem großen Raum, den sie auch für Gebete benutzen. Yi, Teng, Sao, Ping Wei, Tia und Li hatten rechts und links ihres Meisters die Plätze eingenommen und übten sich in reinigender Meditation. Meister Wu, der so erhaben war, dass er in seiner Gedankenkraft weit über den Horizont hinauszuschreiten vermochte, blickte aus dem Fenster und betrachtete in der Ferne den Schnee auf den Bergen des Himalayas.
Nach einer Weile aber hob er langsam die Hand und gewährte so seinen Schülern als die unwissenden Fragen, die er ihnen auf dem langen Pfad der Erkenntnis zu erklären versuchte.
Sao neigte den Kopf so tief, dass er fast den Boden berührte und als sein Meister den Gruß erwiderte, begann er seine Rede.
„Meister, ich spüre so manches Mal ein Zaudern in mir. Dann sinne ich nach und wäge ab, was die richtige Handlungsweise wäre. Über diese gar schweren Gedanken kann ich nicht entscheiden und weiß den Weg dann gar nicht mehr.“
Meister Wu überlegte darüber gar nicht lange. Er beugte sich vor und wies