Die zehn Weisheiten des Meister Wu - Page 5

Bild von Magnus Gosdek
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Haus zurück. Meister Wu aber sah hinüber zu dem kleinen Teich und dem Hügel, der sich dahinter sanft an das Ufer schmiegte und er lächelte demutsvoll.

Die Weisheit der Nachahmung

Eines Tages kam ein edler Mann der Umgebung zu der bescheidenen Behausung des Meisters Wu. Es war früh am Morgen und die Sonne war gerade über den Wipfeln der Berge aufgegangen, als er den Weg aus dem vom nahen Dorf her entlangschritt. Hinter ihm trabte Tia, sein zwölfjähriger Sohn mit gesenktem Kopf.
Meister Wu saß vor dem Haus und blickte den beiden Besuchern gelassen entgegen. Wei hatte ihm eine Schale Tee zubereitet und er freute sich des Lebens.
Der edle Mann kam gemessenen Schrittes daher. Als er Meister Wu erreicht hatte, blieb er stehen und verneigte sich tief. Sein Sohn, dicht hinter ihm, hielt immer noch den Kopf gesenkt, als warte er, was sein Vater nun sprechen würde.
„Seid gegrüßt, Meister Wu“, begann der edle Mann. „Die Größe eures Namens durchzieht das Tal und ihre Weisheit nährt den Boden, dass wir Halt und Erleuchtung finden.“
Meister Wu neigte bescheiden den Kopf und erwiderte:
„Seid mir ebenfalls gegrüßt, edler Herr. Ihr versüßt mir den Tag mit Eurer Anwesenheit in unserer niedrigen Hütte.“
Nun war es wieder an dem Herrn, sich zu verneigen und nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, trat er einen Schritt zur Seite.
„Dies ist mein Sohn, Tia“, sagte der edle Herr und wies auf den Jüngling. „Ich bitte euch, sich seiner anzunehmen, damit er von Eurer Weisheit kosten kann und sie ihm Erleuchtung bringen mögen.“
Dem Jungen schien die Rede gar nicht zu gefallen. Er trat von einem Fuß auf den anderen, als wolle er dem Tag entfliehen. Doch des Vaters strenger Blick hielt ihm auf der Stelle. Meister Wu betrachtete den Jüngling und auch seine Schüler, die ein Stück weit abseits standen und neugierig die Hälse streckten.
„So trete heran, mein Sohn, dass ich dich betrachten kann“, sagte Meister Wu erhaben.
Der Jüngling blieb auf der Stelle stehen, dass der Vater ihm die Hand auf den Rücken legte und vorwärts schob. Tia tat ein paar Schritte und blieb vor Meister Wu stehen, ohne den Kopf zu erheben. Der Meister betrachtete ihn eine Weile und sagte dann:
„Du weißt, dass die Lehre ein langer Pfad zur Erleuchtung ist. So sprich zu mir, ist dein Herz bereit, den Weg zu betreten?“
Nun hob Tia den Kopf und trotzig sah er Meister Wu in die Augen. Sein Reden aber verriet die Demut, die der Vater von ihm erwartete.
„Werter Meister“, sprach der Jüngling. „Der Weg zur Erleuchtung besitzt viele Abzweigungen und nicht jeder von uns ist ausersehen, den wahren Pfad zu beschreiten. Ich bin noch jung und mir verlangt es, meinen Weg noch zu suchen.“
„Wir alle sind Suchende“, sagte Meister Wu und wiegte den Kopf bedächtig. „Die alten Lehren zeigen uns die Richtung, die schon viele beschritten sind. Ihnen nachzustreben gilt es.“
„Oh Meister“, sagte Tia daraufhin voller Demut, „wie soll mir einer der edlen Weisen den Weg zeigen können, war er doch ein anderer Mensch? Ich möchte selber herausfinden, was mein Schicksal ist, denn niemand kann es für mich tragen.“
Meister Wu musterte den Jüngling und sah dann zu dem edlen Herrn hinüber.
„Mir scheint, euren Sohn verlangt es nach eigener Erfüllung, die er in diesem Hause wohl nicht erlangen mag“, sprach der Meister.
„Es fehlt ihm eine Hand, die ihm die Richtung weist“, sprach der edle Mann und verbeugte sich wieder. „In eurer Güte könnt ihr ihm lehren, was ihm fehlt und meine Dankbarkeit, so niedrig ich sie auch entlohnen kann, soll eurem Haus in Käschmünzen zufallen.“
Meister Wu nahm sein Schälchen Tee und nahm bedächtig einen Schluck, als bedenke er das Gehörte sorgsam.
„Ich sehe“, sprach er nach einer Weile, „dass euer Ansinnen ernsthaft ist. Die Lehren sind weise und es braucht lange, um sie zu verstehen. Doch sind sie offen für alles Denken und Streben. So bleibe bei uns, lieber Tia, und suche deine Erleuchtung, wie es dir gelüstet.“
Hocherfreut verneigte sich der edle Herr und legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter.
„So sei dies nun dein neues Zuhause, welches dir in Freude ins Herz bringen mag. Meine Dankbarkeit werde ich ihnen jeden Anfang des Monats persönlich bringen und sehen, wie mein Sohn sich entwickelt, Meister Wu“, sagte er.
Daraufhin verneigte er sich erneut und verließ den Ort, an dem er Tia allein vor Meister Wu stehen ließ. Der Meister wandte sich nach Sao um und winkte ihn herbei.
„Zeige unserem neuen Schüler die Behausung“, wies er Sao an, der sich mit einer tiefen Verneigung näherte.
„So sei es, Meister“, sprach der Jüngling, nahm den neuen Schützling an die Hand und zog ihn mit sich ins Haus.
Nun war es Yi, der an Meister Wu herantrat, um die Weisheit zu erblicken.
„Mein Meister“, sprach er. „Wie kann Tia den Pfad der Erleuchtung finden, wenn er keine Anleitung erfährt?“
Meister Wu nahm bedächtig einen Schluck Tee aus der Schale und setzte sie auf dem kleinen Tischchen ab. Dann sprach er:
„Jeder sollte sich seinen eigenen Weg suchen. Macht er es anders, als alle anderen, wird er seinen Weg finden.“
„Heißt es in den Lehren nicht, es gibt immer drei Wege der Entscheidung. Der Erste ist der durch Nachahmung, das ist der Einfachste. Der Zweite ist der durch Überlegung, das ist der Edelste, der Dritte durch Erfahrung, das ist der Bitterste?“
„So mag es sein“, sprach Meister Wu. „Und dennoch führen sie alle an das Ziel. Die Natur schafft immer von dem, was möglich ist, das Beste.“
„Oh Meister“, entgegnete Yi, „die Lehre sagt uns, dass wir durch Nachahmung tiefe Einblicke in das Wesen des anderen erhalten. Sie offenbart uns sein Denken, seine Gefühle und erlaubt uns, seine Handlungen und Reaktionen auf unser Verhalten vorherzusagen. Wir ahmen in unserem täglichen Tun die alten Meister nach, um uns tief in die Wahrheit versenken zu können. Wie kann der junge Schüler den Weg finden, ohne die Meister zu verstehen?“
„Wie wahr du sprichst, mein lieber Yi“, entgegnete Meister Wu. „Und doch wird Tia es tun. So hab Geduld mit ihm, mein junger Schüler. Derweil nehme die kleine Sichel aus dem Haus und gehe in die Berge,

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Kommentare

15. Mai 2016

Ein guter Text, der lohnt -
Weil Weisheit in ihm wohnt ...

LG Axel

16. Mai 2016

Oh Weiser dieser Seiten, wie viele Wege zur Erleuchtung hast du uns hier aufgezeigt ...

16. Mai 2016

Vielen Dank, dass er Euch gefällt. Wie ihr seht, kenne ich den Weg nicht, ansonsten müsste ich nicht so viel darüber schreiben :-) LG Magnus

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