Die zehn Weisheiten des Meister Wu

Bild von Magnus Gosdek
Bibliothek

Seiten

Dort, wo sich das Chinesische Reich langsam dem Himalajagebirge annähert, verlieren sich schmale Pfade zwischen den Bergen. Das Gestein wird kahler und kaum ein Wanderer vermag es, die schmalen Wege entlang zu ziehen. Dann aber öffnen sich die Wege ins Nirgendwo und bieten dem erstaunten Betrachter eine wunderbare Sicht auf kleine Täler mit ihrem lockendem Grün und kleinen Wäldchen, denen entlang für gewöhnlich ein schmales Bächlein seinen immerwährenden Weg sucht. Vereinzelt liegen Dörfer an den Ausläufern der Wälder, so winzig, dass sie auf keiner Landkarte verzeichnet sind.
In einem der Täler aber hatte sich ein Fremder niedergelassen. Er selber nannte sich Meister Wu und war eines Tages erschienen, ohne dass jemand zu sagen vermochte, woher er tatsächlich kam. Niemand wusste etwas von ihm zu erzählen; doch wer ihn traf, erkannte an seiner ernsthaften, aufrechten Art sofort, dass es sich um einen Weisen handeln musste und die Bauern der Umgebung bewunderten ihn mit scheuem Interesse.
Meister Wu baute sich eine kleine Hütte an einem Waldesrand und ein schmaler Bach plätscherte ganz in der Nähe dahin, dass man meinen mochte, dies wäre das Paradies, von welchem die alten Schriften berichteten. Selbst das Wasser des Baches floss an dieser Stelle so träge, als wolle es für immer an diesem Ort verweilen. Den ganzen Tag über lustwandelte Meister Wu über die schattigen Ebenen und erfreute sich dessen Anblicks.
Es dauerte nicht lang, bis die reichen Leute der Umgebung davon überzeugt waren, dass es ein Geschenk sei, solch einen Weisen in ihrer Nähe zu wissen und er ihren Kindern, denen sie nur das Beste wünschten, die Wahrheit lehren solle. Meister Wu lächelte milde, als die reichen Leute mit ihrem Anerbieten zu ihm kamen und er erklärte sich bereit, die Schüler bei sich aufzunehmen.
„Doch bedenkt, wenn wir mit so vielen hier wohnen sollen, so benötigen wir ein größeres Haus“, sprach er zu den braven Leuten. Die reichen Leute aber sagten ihm, er solle sich darüber keine Sorgen machen und kaum zogen die sechs Schüler zu ihm an den Bach, ließen ihre Eltern für Meister Wu ein Domizil bauen, welches in seiner Größe und den Verzierungen alle Häuser des Tales übertraf.
Meister Wu schien damit zufrieden, doch gab er weiter zu bedenken:
„Wenn wir alle hier leben, so benötigen wir Nahrung und Kleidung. Ich jedoch bin ein armer Mann.“
Die reichen Leute aber gaben ihm nun monatlich Geld, damit er ihre Kinder erziehen und die notwendigen Speisen zu kaufen vermochte. Meister Wu war damit zufrieden.
So zogen Yi, Teng, Sao, Ping, Wei und Li in das neue Haus den Weisen ein und Meister Wu begann mit ihrer Ausbildung. Die Bauern im Tal waren stolz darauf, dass sie jetzt eine Schule in ihrer Nähe wussten und berichteten ihren Freunden gerne davon, dass der Ruhm von Meister Wu sehr bald bis ins Unermessliche stieg. Und mit der Ausbildung seiner Schüler nahm der Meister es sehr ernst. Er hatte seine Lehre in zehn Weisheiten eingeteilt, die er ihnen im Laufe der nächsten Jahre beibrachte. Von diesen zehn Weisheiten des Meisters Wu sei hier nun berichtet.

Die Weisheit der Gegenwart

Eines Tages kamen die Schüler Wei und Yi hinunter zum Bach, an dem ihr Lehrer seit den frühen Morgenstunden verweilte und setzten sich neben ihn.
Meister Wu rauchte eine Pfeife kostbaren Tabaks und gab sich zufrieden dem Augenblick hin. Sein Schüler Yi blickte gelassen auf das Wasser, auf dem sich die Wellen im leichten Gang des Tages kräuselten. Wei jedoch ließ seine Schultern fallen und seufzte schwer, so dass Meister Wu ihn fragend ansah.
„Was ist mit dir, mein lieber Wei?“ fragte er und zog einen köstlichen Geschmack aus der Pfeife.
„Ach, Meister“, begann sein Schüler niedergeschlagen, „ich frage mich warum das Leben manches Mal so schwer ist? Es gibt Tage, an denen ich vor Glück aufspringen und tanzen möchte. Das Dasein erscheint mir wie ein Schmetterling, der von Blüte zu Blüte fliegt. Dann wiederum erwache ich und finde kaum die Kraft, mich vom Lager zu erheben. Der Tag erscheint mir dunkel und meine Gedanken sind bewölkt. Oh Meister, so sage mir, warum das so ist.“
Meister Wu sah hinüber zu dem Uferbewuchs des Baches und betrachtete die Bienen auf den Sträuchern, wie sie über die Blüten flatterten.
„Mein lieber Wei“, so begann er. „Nichts ist so veränderlich wie das Leben. So wie diese Sträucher sich den einen Tag im Sonnenschein wiegen und am anderen Tage der Regen auf sie herniederfällt. Es verlangt ihnen nach beidem und so ist es auch bei uns Menschen. Wenn wir die dunklen Augenblicke auch nicht preisen, so haben wir sie doch zu erleiden, denn sie zeigen uns die Schönheit des Lebens, die wir danach genießen werden.“
„So sollen wir uns an den glücklichen Augenblicken ergötzen und die schmerzlichen erdulden?“ fragte Wei zweifelnd.
„Wie wahr“, sagte der Meister. „Der Genuss ist es, auf den wir achten sollten. Er macht das Leben süß.“
„Aber Meister Wu“, sprach daraufhin der Schüler Yi. „Besteht das Leben nicht aus einer Vielzahl von Augenblicken? Ist nicht jeder von ihnen unser Leben?“
„Wenn du es sagst“, sprach Meister Wu.
„Wenn dies so ist, dann haben wir nur diesen Augenblick. Die Vergangenheit ist vorüber und die Zukunft ist noch nicht“, sagte Yi. „Nur dieser Moment ist es, den wir leben. Ob wir ihn gut oder schlecht empfinden, mag aus unserer Schwäche entspringen. Der Augenblick aber ist. Und dafür gehört ihm unsere Achtung, denn er wird niemals wieder sein.“
Meister Wu betrachtete weiterhin die Bienen an den Sträuchern und sein Atem ging ruhig. Wei und Yi sahen ihn an und ehrten seine tiefen Gedanken, in denen er wandelte.
„Mein lieber Yi“, sagte Meister Wu dann nach einer Weile, die er genüsslich im Rauch seiner Pfeife verbrachte. „Wie wahr du gesprochen hast. Der Augenblick ist es, den wir zu ehren haben und jeder von ihnen ist gleichermaßen wertvoll.“
Yi nickte froh, die Lehre richtig verstanden zu haben. Er war ein eifriger Schüler, der sich voller Demut danach sehnte, tief in die Geheimnisse des Seins eingeführt zu werden. Meister Wu ehrte diesen Drang und darum sprach er langsam und weise:
„Ich bitte dich, sieh hinüber zu der Wiese dort. Das Gras steht gar

Seiten

Interne Verweise

Kommentare

15. Mai 2016

Ein guter Text, der lohnt -
Weil Weisheit in ihm wohnt ...

LG Axel

16. Mai 2016

Oh Weiser dieser Seiten, wie viele Wege zur Erleuchtung hast du uns hier aufgezeigt ...

16. Mai 2016

Vielen Dank, dass er Euch gefällt. Wie ihr seht, kenne ich den Weg nicht, ansonsten müsste ich nicht so viel darüber schreiben :-) LG Magnus

Seiten