Zwischen Toccata und Fuge

Bild von Susanna Ka
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Ich öffne das Fenster und schon donnert die Straßenbahn durch das Wohnzimmer. Mit lautem Klingeln durchquert sie durch den kleinen Raum und reißt alles mit sich, was zu nahe an den Schienen steht. Meinen Fernsehsessel, den Katzenkorb - zum Glück kann ich die Katze geraden noch am Fell packen und zurückreißen. Die Scheiben des Wohnzimmerschranks klirren. Das Lachen meines Kindes zerbirst, weil das Klavier in die Luft springt und die Noten seiner geliebten ‚Elise‘ mit der Bahn in der Ferne verschwinden.
Wir gewöhnen uns nie an daran, die Katze, das Kind und ich. Obwohl dieses silberfarbene Ungetüm alle zehn Minuten durch unser Zuhause rauscht. Pünktlich.

Früher, ja früher war das anders. Da zockelte die alte Nummer Elf durch das Wohnzimmer. Die Katze konnte während der Fahrt durch die geöffneten Fenster hinein - und hinausspringen. Ich reichte den Fahrgästen meine ausgelesenen Zeitschriften hinein und nahm leergetrunkene Pappbecher und zusammengefaltetes Butterbrotpapier entgegen. Früher blieb die Bahn manchmal mitten im Zimmer stehen, weil der Stromabnehmer von der Oberleitung gefallen war. Dann konnte ich mich mit den Fahrgästen unterhalten. Die Katze genoss die vielen Streicheleinheiten und so mancher Fahrgast stieg aus, um zu telefonieren – Handys gab es damals noch nicht - oder ‚Für Elise‘ auf dem Klavier zu spielen.

Seit ein paar Jahren ist es mit der Beschaulichkeit vorbei. Seitdem die Hannöverschen Verkehrsbetriebe die ‚Silberpfeile‘ angeschafft haben, leben wir im Rausch der Geschwindigkeit. Und mit dem Sand, den der Triebwagen auf die Schienen entlässt, um die wilde Fahrt durch unser Wohnzimmer etwas abzubremsen. Dieser Sand setzt sich in jeden Winkel, in jeden Spalt. Zwischen die Zähne meines Kindes und in das Fell der Katze. Und er blockiert die Tasten des Klaviers, genau zwischen ‚Toccata und Fuge‘.
Wenn ich nachts die Fenster schließe, muss die Straßenbahn um das Haus herumfahren. Der Stadtbahnbetreiber sieht das nicht gern, weil der kleine Umweg Zeit kostet und den Fahrplan durcheinanderbringt. Die schweren Triebwagen der ‚Silberpfeile‘ verbrauchen dafür mehr Strom. Der ist teuer und das schlägt sich mit der Zeit auf die Fahrpreise nieder. Dann winken die Fahrgäste nicht mehr so freundlich aus den Fenstern, sondern drohen mit der Faust. Die Stadtverwaltung hat mir schon oft nahegelegt, auszuziehen, damit das Haus abgerissen werden kann. Man hat mir eine Wohnung versprochen, irgendwo im siebzehnten Stock, eine Schaukel für das Kind und ein neues Klavier. Aber ich gebe unser Zuhause nicht kampflos auf. Das Haus war zuerst da. Lange, bevor die Straße verbreitert und die Bahnlinie angelegt wurde. Auch das Klavier stand schon hier, als wir einzogen.

Außerdem stehen Haus und Klavier unter Denkmalschutz.

Interne Verweise

Kommentare

17. Jun 2018

"Hauptsache schnell" - der neue Wahn:
Er gilt selbst bei der Straßenbahn!
(Die Trambahn im Zimmer:
Krause ist schlimmer! Immer ...)

LG Axel

17. Jun 2018

Liebe Susanna, es hat großen Spaß gebracht, Deine Geschichte zu lesen. Das ist ein ausgezeichneter Text. Deine Argumente leuchten mir alle ein.

Liebe Grüße,
Annelie

18. Jun 2018

Zwischen Toccata und Fuge
knirscht Sand im Getriebe
hinterlässt der Wind
ölige Spuren eines zu
schnellen Lebens

Vergessen in
Melancholie die
Beschaulichkeit
einer zufriedenen
Langsamkeit

Mühsam stemmt
das gemütliche Zimmer
sich gegen die Hektik
wer gewinnt?

- Deine Parabel ist sehr eindringlich!

LG Yvonne

20. Jun 2018

Danke, liebe Yvonne, für dieses schöne Gedicht. Ich mag es sehr, wenn der gleiche Inhalt auf verschiedene Weisen dargestellt wird.

Liebe Grüße, Susanna

18. Jun 2018

„Unter Denkmalschutz“, ist eine Gnade und Glück zugleich. Fürs Haus und seine Bewohner. Auch wenn Mieter und oder Eigentümer, beim Renovieren – Erneuern, Auflagen haben, wohnen und sind sie meistens sicher untergebracht. Ich würde auch um mein Heim kämpfen. „Es“ und ich, gehören doch zusammen, nach all der Zeit und genau das empfinde ich bei Deinen Zeilen, liebe Susanna … miteinander verwachsen.

Liebe Grüße in Deinen Abend
Soléa

20. Jun 2018

Habt Dank ihr Lieben, für Eure Kommentare. Die Geschichte ist gar nicht so sehr aus der Luft gegriffen. Wir haben einmal an einer Hauptverkehrsstraße gewohnt. Unsere Fenster direkt auf Höhe der Oberleitung. Wenn ich das Fenster öffnete, hatte man wirklich den Eindruck, die Straßenbahn führe durch das Zimmer. Das laute Klingeln war nervtötend. Das ist jetzt fast dreißig Jahre her. Das Haus steht immer noch, es hat sogar einen neuen Anstrich bekommen und die Bewohner harren tapfer aus. Die 'Silberpfeile' bringen die Erde zum Beben.

Herzliche Grüße, Susanna