Der Mittagsschuss - ein Krimi

Bild von Annelie Kelch
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Endlich Frühling! ‑, und keineswegs nur auf dem Kalender; die Sonne hatte sich durch die grauen, todmüden Winterwolken gekämpft und sorgte für milde Temperaturen. Jenny saß auf der Terrasse des kleinen Einfami­lienhauses, das sie von ihren Eltern geerbt hatte, und träumte vom Urlaub, der, wie die Osterfeiertage, unmittelbar bevorstand. Sie sah sich über das Kopfsteinpflaster der idyllischen Altstadtgassen Husums schweben, am kleinen Hafen entlangschlendern und durch den Schlosspark streifen. Storms – längst nicht mehr graue – Stadt am Meer war, nicht nur gedank­lich, in greifbare Nähe gerückt. Schade, dass die Krokusblüte schon vor­über ist, dachte Jenny.

Von Hamburg nach Husum sollte die Fahrt gehen ‑ auf ihrem altmodi­schen, aber robusten Hollandrad, möglichst im strahlenden Sonnen­schein, unter knospenden Bäumen, an blühenden Wiesen und rapsgelben Feldern vorbei. Sie wollte sich jede Menge Zeit lassen und in kleinen Gasthöfen übernachten – bed and breakfast, fast wie in England.

Nachdem Viktor, ihr älterer Bruder, das Transportobjekt sorgfältig über­prüft und neue Reifen aufgezogen hatte, war Jenny der Karosserie mit Eimer und Putzlappen zu Leibe gerückt. Das Fahrzeug lehnte startbereit am Gartenzaun. Die Chromteile blitzten wie die sündhaft teuren Schmuckstücke im Schaufenster von Juwelier Lindt gleich um die Ecke.
Kaum dass der April ins Land gezogen war, strotzte die Natur gleichsam vor Blättern, Knospen und Blüten. Alpenglühn war nichts dagegen.

Weil die von Jenny gewählte Reiseroute streckenweise durch unwirtliche Gefilde wie einsame Landstraßen führte – Wälder hatte sie schweren Herzens von vornherein ausgeklammert –, kam ihr Viktors alte Spielzeug­pistole, die sie kürzlich beim Aufräumen des Kellers in einer Kartoffel­kiste gefunden hatte, in den Sinn. Sie sah der Dienstpistole ihres Vaters, der vierzig Jahre lang im Polizeidienst tätig gewesen war, täu­schend ähnlich. Sie erinnerte sich daran, dass er die scharfe Waffe stets in der obersten Schublade des opulenten Garderobenschranks unter sei­nen Winterschals aufbewahrt hatte. Wenn sie nicht alles täuschte, müsste sie nach wie vor dort zu finden sein. Jenny hatte die Waffe längst auf dem Polizeirevier abgeben wollen, nachdem ihr Vater vor zwei Jahren verstor­ben war.
Wenige Tage vor Fahrtbeginn studierte Jenny den grimmigsten Ge­sichtsausdruck ein, zu dem sie fähig war. Sie fand allerdings, dass sie mit dieser Mimik eher komisch rüberkam und probierte sicherheitshalber ein paar Worte aus tiefster Kehle heraus, indem sie die „schwedische Nachti­gall“ Zarah Leander imitierte. Allerdings deklamierte sie keineswegs den Refrain des Mega-Oldies „Der Wind hat mir ein Lied erzählt“, sondern brüllte bei offener Terrassentür: „Mach dich vom Acker, Macker, sonst puste ich dir die Rübe vom Rumpf.“
Ihrer Nachbarin Sibylle, die sich im Garten aufhielt, war vor Schreck das Gefäß mit dem weichen Regenwas­ser aus den Händen geglitten. Zwar traf die von Jenny gewählte Aus­drucksweise keineswegs den von ihr bevorzugten Stil, was Kommunika­tion anlangte, sich bei hundsgemeinen Überfällen jedoch aufs Bitten und Betteln zu verlegen, fand sie schlicht und einfach unter ihrer Würde. Sie hatte nämlich keineswegs vor, im Outfit einer Matrone in die Pedalen zu treten, mal ganz davon zu schweigen, dass ein zur Untat entschlossener Halunke selbst vor züchtiger Kleidung nicht zurückschrecken würde.

Wie herrlich, bei diesem strahlenden Wetter durch die Natur zu radeln, dachte Jenny stillvergnügt in der Einsamkeit der Landstraßen zwischen Heide und Husum, die von Getreidefeldern und blühenden Wiesen ge­säumt wurden. Gegen Abend würde sie die kleine Kreisstadt erreicht ha­ben.

Es war hoher Mittag, als sie hinter sich das Motorengeräusch eines Fahr­zeugs vernahm. Ein hellblaues, offenes Sportcoupé überholte sie und das immer noch blitzblanke Hollandrad, bremste kurz ab und schnurrte im langsamen Tempo neben ihr her.

Jennys Hand fuhr unter die legere Bluse zum Hosenbund ihrer Jeans, um nach der Waffe zu tasten, die dort auf ihren Einsatz harrte.
„Darf ich Sie ein Stück mitnehmen, schöne Frau?“, fragte ein braunge­brannter Mann mittleren Alters. Seine rechte Hand ruhte siegesgewiss auf dem Knauf der Beifahrertür.

„Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe und fahren Sie weiter“, erwiderte Jenny und setzte die grimmige Miene auf, die sie zu Hause einstudiert hatte. Es war gar nicht so einfach, die gute Kinderstube zu vergessen und wie ein Droschkenkutscher zu fluchen. Sie zog die kleine Pistole aus dem Hosenbund und spannte den Hahn, und als im nächsten Moment der ohren­betäubende Knall eines Schusses die dörfliche Stille zerriss, blickte sich Jenny verwundert nach ihrem vermeintlichen Retter um. Es dauerte einige Sekunden, bis ihr klar wurde, dass sie die Dienstwaffe ihres Vaters eingesteckt hatte.
Fassungslos starrte sie auf die Pistole, die in ihrer Hand lag, harmlos wie eine Plastikmaus. Das Gesicht des Charmeurs war schmerzverzerrt, was seinem smar­ten Aussehen ungemein abträglich war. Seine linke Hand ruhte nun auf dem Lenkrad, während er die rechte auf den linken Oberarm presste, zwischen seinen Fingern sickerte kirschrotes Blut hervor, der Wagen schlingerte wie bei einer Alkoholfahrt. Auf Jennys verzweifeltes Angebot, ihm zu helfen und die Wunde zu versorgen, ging er, gottlob, wie sich später herausstellen sollte, nicht ein. Sie erspähte durch die enorme Staubwolke, die der flotte Flitzer jäh zurückließ, gerade noch die Rücklichter und das Nummernschild, das sie sich vorab im Geiste und kurz darauf in ihrem Reisetagebuch notierte. Dann kramte Jenny ihr Handy aus dem Rucksack hervor und alamierte die Polizei.

Drei Tage später saß sie an einem der Alu-Tischchen, die, ins Freie ge­rückt, zu einer dieser gemütlichen Fischerkneipen am Husumer Hafen ge­hörten. Sie nippte versonnen an ihrem Pharisäer, starker Kaffee mit Rum und Schlagsahne, eigentlich ein typisches Wintergetränk. Nach dem ach­ten Becher durfte man das Gedeck behalten. Der Schreck über die ge­fährliche Verwechselung saß ihr noch in allen Gliedern, als in der Brust­tasche ihrer luftigen Sportbluse ihr Handy herumzuzappeln begann.

„Frau Jahnke“, sagte der Beamte vom Kommissariat West in Heide. „Ich habe zwei Nachrichten für Sie, eine gute und eine schlechte. Welche möchten Sie zuerst hören?“ – „Die schlechte natürlich“, platzte Jenny heraus, keineswegs aus purem Pessimismus, sondern in der Hoffnung, dass die gute Nachricht die schlechte schlichtweg aufheben würde.

„Also gut. Leider kommen Sie um ein Verfahren wegen fahrlässiger Kör­perverletzung und unerlaubtem Waffenbesitzes ...“ ‑ „Aber das war ein tragisches Missgeschick, ich bin nämlich ...“, fiel Jenny ihm ins Wort. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich eine geladene Waffe in der Hand hielt.“ –
„Darüber wird ein Richter befinden. Darauf habe ich keinen Einfluss“, er­widerte der Polizist. „Und jetzt die gute Nachricht: Sie haben uns auf die Spur eines gefährlichen Serienmörders gebracht. Seine DNA stimmt mit Funden an mehr als zehn Tatorten überein. Gratuliere! Die Belohnung ist nicht unerheblich.“

Danke, Vater, dachte Jenny. Danke, dass du so entsetzlich und nahezu unverzeihlich fahrlässig gehandelt hast - das Schießeisen an einem Ort aufzubewahren, von dem ich Kenntnis hatte. Es ist ja noch einmal gutge­gangen und hat mir sogar das Leben gerettet, während die Spielzeugpistole, die ich für deine Dienstwaffe gehalten habe, derweil in der Re­genrinne liegt und peu á peu den Prozess gegen Rost  Partner verliert.

Nicht auszudenken, wenn der geladene Revolver deinen Enkeln, den leb­haften Zwillingen Tom und Lasse, ein liebes, aber nicht selten nerviges Doppelpack, in die Hände gefallen wäre.
Viktor hätte mich umgebracht, dachte Jenny.
Wie gut, dass sie die Radtour geplant und letztlich auch angetreten hatte, sonst wäre der gefährliche Verbrecher immer noch auf freiem Fuß und die scharfe Waffe befände sich nach wie vor an einem Ort, der den Zwillingen in absehbarer Zeit mühelos zugänglich gewesen wäre.

Und zum ersten Mal in ihrem Leben war die Krankheit, die sie seit ihrer Kindheit plagte, Diabetes-Typ-1, ein Autoimmunleiden, zu etwas nütze gewesen. Hätte sie nicht dieser plötzliche Schwindelanfall gepackt, weil sie stark unterzuckert war, wäre es niemals zu dieser lebensrettenden, wenngleich gefährlichen Verwechselung gekommen. Das Insulin in ihrem Pen war zur Neige gegangen, und sie fand auf die Schnelle keine neue Kartusche, weshalb sie die dringliche Injektion verschoben und bald darauf vergessen hatte.

Später war sie der festen Überzeugung gewesen, den Spielzeugrevolver in die Obstschale gelegt zu haben, während sie die scharfe Waffe auf der Anrichte wähnte. Sie erinnerte sich noch an ihr spitzbübisches Lächeln, als sie den vermeintlichen Spielzeugrevolver, die scharfe Waffe, in die un­terste Schublade unter Mutters Frühlingshütchen, mit denen die Zwillinge gelegentlich ihren Schabernack trieben, deponiert hatte. Gleich darauf war sie hinausgegangen, um in dem festen Glauben, es handele sich um Vaters Dienstrevolver, die Spielzeugpistole in die Regenrinne zu hieven, wo sie nicht einmal die Zwillinge aufstöbern würden.

Ohne diese plötzliche Benommenheit läge ihr Leichnam jetzt vermutlich in einem pathologischen Institut; ein Gerichtsmediziner würde in ihrem bereits der Fäulnis anheim gefallenen Fleisch herumwühlen, um der ge­nauen Todesursache auf die Spur zu kommen ‑ was sich kaum als schwierig erweisen dürfte, dachte Jenny. Vermutlich hätte der Kerl sie mit seinem Wagenheber erschlagen, wie all die anderen Frauen vor ihr.

Sie stand auf und stakste auf unsicheren Beinen Richtung Hotel; der sechste Pharisäer hätte sie fast außer Gefecht gesetzt. Aber damit wäre jetzt Schluss. Übermorgen würde sie die Heimreise antreten – im Auto: Viktor am Steuer, sie auf dem Beifahrersitz, das Hollandrad auf dem Dach und im Fond: die lebhaften Zwillinge, die ihren Marsh-Mellow-Atem in ihr Genick pusten und mit klebrigen Fingern ihr neues Husum-T-Shirt ver­kleistern würden, was sie mit stoischer Gelassenheit ertrüge.

Interne Verweise

Kommentare

18. Nov 2016

Auch diese Story scheint ein Treffer -
Sie hat viel Charme und echten Pfeffer!

LG Axel

18. Nov 2016

Man freut sich sehr
und dankt - Mijnheer.

LG Annelie