Als seine Ehefrau ihn fragte, wie seine guten Vorsätze für das neue Jahr lauteten, musste Georg Schneider einige Sekunden überlegen.
"Ich möchte dieses Jahr endlich aufrichtiger gegenüber meinen Mitmenschen sein", nahm er sich insgeheim vor. Seiner Frau entgegnete er: "Ich möchte endlich wieder mehr Sport treiben", was als sinnvolles Vorhaben akzeptiert wurde. Dann stießen sie auf ein friedliches und glückliches neues Jahr an und gaben sich der Pracht des Feuerwerks am Nachthimmel hin.
In diesem Augenblick dachte Schneider nicht nur an seine Frau und den gemeinsamen Sohn, der wenige Meter entfernt mit seinen Spielkameraden kleine Böller durch die Gegend warf. Er dachte auch an seine andere Frau, die mit der gemeinsamen Tochter in der dreißig Kilometer entfernten nächsten Großstadt wohnte, wo man ihn unter dem Namen Martin Bühler kannte. Er dachte an die vielen Dienstreisen, zu denen ihn seine beiden Jobs zwangen, von denen er freilich keinen tatsächlich ausübte. Als Georg Schneider war er Außendienstmitarbeiter eines mittelständischen Unternehmens hier vor Ort, während Martin Bühler als IT-Spezialist bei einer Softwarefirma in der Nachbarstadt angestellt war. Niemand hatte diese Angaben je überprüft. Niemand wusste, dass er, anstatt zu arbeiten, von dem Millionenerbe lebte, das seine vor zwei Jahren verstorbene Mutter ihm hinterlassen hatte, von deren Existenz er weder der einen Familie noch der anderen je erzählt hatte. Georg Schneider hatte seine Eltern offiziell nie kennen gelernt und war als Findelkind bei Pflegeeltern aufgewachsen, die leider bereits seit vielen Jahren tot waren. Martin Bühler hingegen hatte sich von seiner Familie früh losgesagt, da er mit deren rechtsradikaler Gesinnung nicht einverstanden war. Weder seine beiden Frauen noch seine Kinder hatten diese Geschichten je hinterfragt.
Im Erfinden von externen Kundenterminen und wichtigen Geschäftsmeetings hatte er es im Laufe der Jahre zu meisterhafter Präzision gebracht, so dass er bei seinen beiden Familien etwa gleich oft anwesend sein konnte. Seine umsichtige Terminplanung ermöglichte es ihm zudem, die einzige Bedingung zu erfüllen, die seine Mutter an das Millionenerbe gekoppelt hatte. Er verkehrte einmal im Monat im Rotarierclub seiner Heimatstadt. Hier war er als Ludwig Böltner bekannt, Sohn des legendären Industriemagnaten und Wohltäters. Im Rotarierclub begegnete man ihm mit dem höchsten Respekt, bot ihm edle Zigarren und teuren Wein an und klopfte ihm auf die Schulter. "Ein aufrichtiger Mensch war er, Ihr Herr Vater", sagten die älteren Herren und prosteten ihm mit Châteauneuf-du-Pape zu, "und man sieht, dass Sie vom selben Schlag sind."
"Ich möchte dieses Jahr endlich aufrichtiger gegenüber meinen Mitmenschen sein", nahm sich Schneider erneut vor, während der erste Schluck Sekt des neuen Kalenderjahres seine Kehle hinunterlief.
"Woran denkst du?", fragte Schneiders Ehefrau.
"Ich überlege, ob ich jetzt gleich Sport treiben soll. Das wäre doch ein guter Start in das neue Jahr. Damit du siehst, dass es mir ernst ist mit den guten Vorsätzen. Das Fitnessstudio hat rund um die Uhr geöffnet."
"Jetzt? Bist du sicher?"
Er gab seiner Frau einen innigen Kuss und setzte sich ins Auto, um in die Nachbarstadt zu fahren. Während der Fahrt rief er zu Hause an: "Schatz, ich bin gleich da und freue mich darauf, verspätet mit dir auf das neue Jahr anzustoßen."
Zum Glück hatte Martin Bühlers Ehefrau für den Notfall im IT-Zentrum eines Großkunden am Silvesterabend Verständnis gehabt. Während der Fahrt überlegte er, wie Bühlers Vorsätze für das neue Jahr lauteten. "Ich möchte endlich mit dem Rauchen aufhören", sagte er später zu seiner Frau, was als sinnvolles Vorhaben akzeptiert wurde.
Dieser Text entstand für den "Wortspiel"-Wettbewerb auf www.bookrix.de im Januar 2016. Das Thema - unschwer zu erraten - lautete "Gute Vorsätze".