Franziska muss gerettet werden

Bild von Mark Read
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Wie ich in das Viertel gekommen war, tut nichts zur Sache.
Ich war jahrelang nicht mehr hier gewesen. Doch es hatte sich nichts verändert. Mein Blick fiel auf heruntergekommene Wohnblöcke und mit Graffitis verzierte Mauern. Ein unangenehmer Geruch lag in der Luft, als würde irgendwo eine Leiche vor sich hin modern.

"Glasscherbenviertel", raunte man sich in anderen Teilen der Stadt zu, wann immer der Name der Gegend fiel. Die Polizei fuhr jeden Tag ihre Einsätze, mehr Drogentote als hier gab als nirgendwo sonst in der Stadt. Niemals hätte ich gedacht, dass ich Franziska ausgerechnet hier begegnen würde.

Hier, wo der Bodensatz der Stadtgesellschaft lebte, bei den Geringverdienern, die tagsüber in den Bäckereien bedienten oder den Müll für andere entsorgten. Sie gehörte hier genauso wenig hin wie ich selbst. Unsere Welt war eine andere, obwohl sie nur wenige Kilometer weiter südlich lag. In unserer Welt standen keine Mülltüten vor den Hauseingängen oder lungerten Menschen ohne Gesichter an dunklen Straßenecken herum.

Als ich auf der Suche nach einer Bushaltestelle durch die Gassen lief, fühlte ich mich nicht nur wie ein Eindringling. Ich war auch einer.
Ich sah kleine Eckkneipen, ein Fahrradgeschäft, Gemüsemärkte. Kinder riefen sich in ausländisch gefärbtem Dialekt Wörter zu, deren Sinn ich nicht verstand. Menschen lachten. Doch es war ein trostloses Lachen.

Nach einigen Minuten fand ich eine Haltestelle und stellte fest, dass der nächste Bus in Richtung Innenstadt erst in einer Viertelstunde fuhr. Ich ging in einen Supermarkt auf der anderen Straßenseite. In den Gängen zwischen den Regalen begegnete ich verschleierten Frauen, bärtigen, dunkelhäutigen Männern und Kindern, die mich misstrauisch musterten.

Als ich mit einer Wasserflasche an die Kasse trat, blickte ich die Kassiererin an und sie mich.
"Franziska?", fragte ich. "Bist du das? Bist du es wirklich?" Die Frau zögerte einige Sekunden, dann schüttelte sie den Kopf und formte mit ihren Lippen ein kaum hörbares "Nein".
"Wirklich? Ich meine, das kann doch nicht… Franziska! Was machst du denn hier an der Kasse?" "Ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem."

Eine Entschuldigung murmelnd, stolperte ich nach draußen. Während mich der Bus zurück in die Innenstadt brachte, versuchte ich verzweifelt, das fleckige Tuch meiner Erinnerung sauber zu waschen. Es gelang mir nicht recht. Doch der Anblick der Kassiererin hatte etwas in Gang gesetzt. Franziska. Die Frau, mit der ich einst mein Leben geteilt hatte. Wie lange hatte ich nicht mehr an sie gedacht?
Aus dem trüben Teich der Erinnerung trieben allmählich Bruchstücke an die Oberfläche, die ich jedoch nur mit Mühe festhalten konnte. Alles war so lange her. Unsere Küsse, unser Kichern, das gedankenlose Sprechen über irgendeine Zukunft.

In meiner Wohnung durchsuchte ich die Kommode im Flur, bis ich die Schachtel gefunden hatte, die mein früheres Leben verwahrte.
Ausgebleichte Polaroid-Aufnahmen zeigten einen Menschen, der mir unzweifelhaft ähnlich sah, der aber doch unmöglich ich sein konnte. Ein lose beschriebenes Blatt, auf dem noch so viele Leerstellen prangten. Neben mir Franziska. Zwei Erstsemester, frisch verliebt, naiv, im Urlaub auf Rhodos.

Weitere Fotos von damals zeigten uns im Studentenwohnheim. Lachend und feiernd, immer lachend und feiernd. Dieser Lebenshunger, den wir damals ausgestrahlt hatten, wo und wann war er uns abhanden gekommen?
Noch ein Bild: Sie mit einer Flasche Wein auf irgendeiner Stockwerksfeier, neben Freunden von damals, deren Namen längst in der trüben Suppe untergegangen waren.
Später fand ich auch das letzte vor unserer Trennung aufgenommene Foto. Wir lehnten an ihrem VW Golf, vermutlich in der Einfahrt vor dem Haus ihrer Eltern. Unsere Gesichter verrieten nicht, was bald darauf geschah.

Franziska war stets die Fleißigere von uns beiden gewesen. Im Studium immer eine Nasenlänge voraus, im gesamten Jahrgang zu den Besten gehörend. Man beneidete mich um sie. Man beneidete uns beide um das, was wir aneinander hatten. Alle dachten, wir würden als erste vor den Traualtar treten um ein gebildetes Juristen-Ehepaar zu werden mit fabelhaften Kindern und einem Vorstadthäuschen.
Und dann war Franziska plötzlich aus meinem Leben gefallen, von einem Tag auf den anderen. Zwölf Jahre war das nun her. Die Umstände hatte ich nur noch schemenhaft vor mir. Ich konnte mich an einen Streit erinnern, vermutlich irgendetwas Lächerliches, das man leicht hätte aus der Welt schaffen können.

Ich starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit. War es möglich, dass die glückliche, junge Frau auf den Fotos und die an der Supermarktkasse ein und dieselbe Person waren?
Ich musste es herausfinden.

Zwei Tage später. Ich beobachtete sie aus sicherer Entfernung, wie sie Schinkenwurst und Tiefkühlpizza abkassierte und stoisch das Geld in ihre Kasse sortierte. Jede Bewegung, jede Gesichtsregung studierte ich und glich sie mit der Frau auf den Polaroid-Fotos ab. Es gab keinen Zweifel. Die Kassiererin war Franziska, zwölf Jahre älter zwar und ein wenig abgezehrt, aber immer noch schön.

Die Frau, mit der ich einst glänzende Zukunftspläne geschmiedet hatte, die Vorzeige-Studentin, die ein Stipendium für ein Auslandsjahr in Yale bekommen hatte, war als Kassiererin in einem schäbigen Supermarkt gelandet.
Wie hatte es nur so weit kommen können?

Wie betäubt beobachtete ich sie weiter, während sich die Uhrzeiger quälend langsam der Ladenschlusszeit näherten. Als Franziska endlich aus dem Supermarkt trat, war die Sonne bereits hinter den grauen Betonburgen des Viertels verschwunden. Ich verließ mein Versteck und folgte ihr in sicherem Abstand.

Als ihre schlanke Gestalt vor mir durch die Straßen huschte, vorbei an hämisch pfeifenden Halbstarken und schummrigen Kneipen, aus denen Balkanmusik schepperte, kam mir der Gedanke, dass sie möglicherweise ein Doppelleben führte. Vielleicht würde ich sie gleich in den Bus Richtung Innenstadt einsteigen sehen, wo in der geräumigen Altbauwohnung bereits ihr Ehemann mitsamt der Kinder auf sie wartete.
Wieso nicht? Dies hier konnte doch eine Art Zeitvertreib sein, ein Ausgleich zur aufreibenden Arbeit vor Gericht, ein Versuch, die Bodenhaftung nicht zu verlieren.

Franziska bog nach rechts ab und ging auf einen der Wohnblocks zu. Ich blieb stehen und sah ihr nach, wie sie durch die Tür trat, kurz einen Blick in ihr Postfach warf und dann vom Dunkel der Eingangshalle verschluckt wurde. Hier hauste sie also, im Dreck, unter armseligen Verhältnissen.

In dieser Nacht rief ich einen alten Studienfreund an. Er schien erstaunt, von mir zu hören. Nicht zum ersten Mal wurde mir schmerzhaft bewusst, wie wenig Zeit ich in den vergangenen Jahren zur Pflege alter Freundschaften gehabt hatte.
"Das klingt jetzt vielleicht

Dieser Text entstand für den 21. Münchner Kurzgeschichtenwettbewerb zum Thema "Kaputt".

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