Die Sache mit Raphaela

Bild von Mark Read
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Als ich Thomas betrachtete, wie er auf meinem Sofa saß und nervös an seinen Fingernägeln kaute, fiel mir auf, wie wenig ich eigentlich über ihn wusste. Na gut, wir waren zusammen zur Schule gegangen, und damals hatten wir wirklich viel zusammen gemacht. Es stimmte wohl, dass wir vor vielen Jahren Freunde gewesen waren. Trotzdem wusste ich über ihn als Person so gut wie nichts. Wenn ich Thomas seit dem Abitur getroffen hatte, und das kam nur alle paar Jahre vor, dann unterhielten wir uns wie gute Bekannte. Wir sprachen über Alltägliches und manchmal auch über Politik. Aber nie über Privates oder persönliche Angelegenheiten. Wenn mich jemand gefragt hätte, was für Interessen Thomas hatte, wie es ihm finanziell ging, ob er vergeben oder gar verheiratet war – ich hätte nur mit den Schultern zucken können.
Ebenso wenig hätte ich bis zu jenem Abend zu sagen vermocht, ob Thomas viel über mich wusste. Ich war davon ausgegangen, dass ich für ihn dasselbe war wie er für mich – eine verblassende Erinnerung an die längst vergangene Schulzeit.  

Plötzlich war er vor meiner Tür gestanden. Ich hatte gar nicht gewusst, dass Thomas meine Adresse kannte. Keiner von uns hatte Veranlassung gehabt, den jeweils anderen zu besuchen. Dazu waren wir bereits seit Jahren zu entfremdet, lag die kurze gemeinsame Episode in unseren Lebensläufen zu lange zurück. Doch nun war Thomas hier in meinem Wohnzimmer. Und ich merkte schnell, dass er anders war als sonst.
Er wirkte abgehetzt, seine Haare standen in einem wirren Durcheinander vom Kopf ab und sein Blick war flackernd und hektisch. Mich irritierte sein gelber Anorak, der von himmelschreiender Hässlichkeit war, und außerdem die abge­wetzte blaue Sporttasche, die er bei sich hatte. Diese Tasche ließ er keine Sekunde aus den Augen. Selbst als ich ihn endlich soweit hatte, dass er auf meinem Sofa Platz nehmen wollte, wanderten seine unruhigen Augen immer wieder hinüber zu der Tasche, deren Inhalt mir verborgen blieb. Ich wartete, ob Thomas mir einen Grund für sein unerwartetes Kommen nennen wollte. Doch er blieb so vage wie bei der Begrüßung an der Tür, als er "Ich war gerade in der Gegend. Kann ich kurz reinkommen?" gemurmelt hatte. "Ich würde gerne ein wenig mit dir plaudern."

Doch ich merkte schnell, dass er nicht wirklich zum Plaudern gekommen war. An diesem Abend war mit Thomas schlicht keine normale Unterhaltung möglich.
Immer wieder wechselte er ohne erkennbaren Grund das Thema, oft brach er seine Sätze abrupt ab und verfiel in ein Grübeln, das ich an ihm überhaupt nicht kannte. An dem Bier, das ich ihm eingeschenkt hatte, hatte er nur kurz genippt und es danach nicht mehr angerührt. Schon nach wenigen Minuten wusste ich nicht mehr, worüber ich mit ihm reden sollte. Seit langer Zeit waren wir uns nur noch alle paar Jahre bei Klassentreffen begegnet. Doch das letzte dieser Treffen war erst drei Wochen her. Ich versuchte, mich zu erinnern, ob Thomas’ Verhalten dort auch schon so seltsam gewesen war.
Doch letztlich hatte es sich um ein normales Klassentreffen gehandelt. Alles war so gezwungen gewesen wie immer. Wie das halt so war bei Erwachsenen, die untereinander kaum noch Kontakt hatten, sich aber trotzdem regelmäßig trafen, um eine immer weiter verblassende gemeinsame Vergangenheit zu glorifizieren. Man versuchte sich zu erinnern, wie der blonde Kerl da am anderen Tisch hieß und ob man mit ihm während der Schulzeit zu tun gehabt hatte. Man klopfte Sprüche wie: "Na, was macht die Kunst?" oder "Schlechten Leuten geht es immer gut". Das immer selbe Geschwätz. Man heuchelte Freude, den jeweils anderen wieder zu treffen, obwohl man sich eigentlich schon während der Schulzeit kaum hatte leiden können. Oder man flüchtete sich in die immer selben alten Anekdoten, die beharrlich alle paar Jahre aufgewärmt wurden, obwohl sie längst jede konkrete Bedeutung eingebüßt hatten.
Klassentreffen waren nun einmal kein Ort für tiefgründige oder private Gespräche. Man klammerte sich an Vertrautes, um nicht gezwungen zu werden, mit im Grunde fremden Personen über zu intime Dinge zu sprechen. Mit Thomas war es beim letzten Treffen also eigentlich so gewesen wie immer - zu gleichen Teilen herzlich und distanziert. Ein paar Mal hatten unsere Biergläser geklirrt, ansonsten hielten wir uns schön an der Oberfläche und lachten stets an den richtigen Stellen. Oder war mir nur nichts an seinem Verhalten aufgefallen?  Schon mehrere Ex-Freundinnen und eine Ex-Frau hatten mir eine geradezu pathologische Unfähigkeit bescheinigt, Emotionen wahrzunehmen, einzuordnen oder selbst darüber zu sprechen.
Was ich allerdings durchaus wahrnahm, war, dass ein sichtlich verstört wirkender Thomas auf meiner Couch saß, den eine unsichtbare Last geradezu niederzudrücken schien. Die Situation kam mir immer grotesker vor. Da ich nicht mehr wusste, über was ich mit meinem Gast noch reden sollte, verfiel ich in ein Schweigen und wartete, ob er mir von selbst erzählen wollte, was ihn hergeführt hatte.

Endlich durchbrach er die Stille und sah mich zum ersten Mal direkt an.
"Hör mal, kannst du mir einen Gefallen tun?", fragte er.
"Kommt drauf an, um was für einen Gefallen es sich handelt. Eine Bank würde ich für dich jetzt nicht unbedingt ausrauben", antwortete ich und überspielte meine zunehmende Nervosität mit einem gequälten Lächeln.
"Eine Bank?" Er sah mich durchdringend an. Der Witz schien bei ihm nur mühsam anzukommen. "Interessant. Aber … nein. Es ist kein ganz normaler Gefallen. Es wird dir seltsam vorkommen. Aber ich vertraue dir, alter Freund. Außerdem weißt du, dass du mir etwas schuldest", sagte Thomas und sah mir in die Augen.
"Ich schulde dir etwas? Warum denn das?"
"Wegen der Sache mit Raphaela."
"Oh." Mir schoss das Blut in den Kopf. "Die Sache meinst du also."
"Ja, die meine ich."
"Ich dachte … also … ich meine, das ist doch so lange her", murmelte ich. "Ich bin davon ausgegangen, dass die Angelegenheit für dich schon längst erledigt wäre."
"Ist sie aber nicht", sagte Thomas nüchtern und ohne einen Anflug von Zorn. "Für euch vielleicht. Für mich aber nicht. Ich steckte damals bis zum Hals in der Scheiße, weißt du?" Er machte eine kurze Pause.
"Aber ich bin wirklich nicht hier, um dich wegen der Sache mit Raphaela zu erpressen. Das ist wirklich

Dieser Text entstand für einen Kurzgeschichtenwettbewerb auf der Plattform www.bookrix.de. Er wurde 2014 erstmals veröffentlicht.
2015 erschien er im Sammelband des Autors: "Zufällige Bekanntschaften".

Veröffentlicht / Quelle: 
Veröffentlicht im Sammelband "Zufällige Bekanntschaften" des Autors (Taschenbuch / eBook)

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