Seiten
das Letzte, was ich will. Ich bitte dich lediglich um einen Gefallen, den du mir meiner Meinung nach wegen dieser Sache schuldest. Also?"
Ich überlegte. Thomas hatte Recht. Ich hatte mich bei ihm niemals für die Geschichte mit Raphaela entschuldigt. Ich hatte es nicht für nötig gehalten, und wir hatten nie persönlich darüber gesprochen. Das Ganze war längst zu einer der zahlreichen Anekdoten geworden, die bei unseren Treffen von irgendwem aufgewärmt und zum Besten gegeben wurden. "Sagt mal, erinnert ihr euch noch an die Sache mit Raphaela", brüllte irgendjemand über den Tisch, und dann wurde die ganze Geschichte aufgetischt. Doch Thomas war immer der, der am lautesten darüber lachte. Ich hatte nie geahnt, wie sehr ihn das mit Raphaela noch immer beschäftigte.
"Verstehe", sagte ich leise. "Was also soll ich für dich tun?"
"Siehst du die Sporttasche da?", antwortete Thomas und deutete zur Wand. Mir fiel auf, dass die Tasche kein Markenetikett hatte. Sie musste sehr alt sein. Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: "Darin befindet sich etwas, das sehr wichtig für mich ist. Ich muss aber für einige Tage weg. An einen Ort, an den ich die Tasche nicht mitnehmen kann. Ich kann dir das jetzt nicht genauer erklären, und ich weiß, wie verwirrend das alles klingt. Jedenfalls musst du auf diese Tasche aufpassen. Du darfst sie nicht aus den Augen lassen, OK? Ich weiß, dass dir jetzt viele Fragen auf der Zunge liegen. Aber vertrau’ mir einfach. Ich erkläre dir alles, sobald ich wieder da bin."
Die ganze Angelegenheit kam mir nun nicht mehr seltsam vor, sondern hochgradig gefährlich, doch ich ließ mir nichts anmerken. "Geht klar", murmelte ich, und Thomas’ Verhalten wandelte sich noch in derselben Sekunde komplett. Er wirkte plötzlich wie befreit und bedankte sich fast schon überschwänglich bei mir. Hatte er zuvor noch bleich und abwesend auf meinem Sofa mehr gelegen als gesessen, machte er nun Scherze, lachte und trank das Bier, das er zuvor kaum angerührt hatte, in wenigen Schlücken aus. Die Erleichterung war ihm derart deutlich anzusehen, dass ich immer neugieriger auf den Inhalt der ominösen Tasche wurde.
"Also", sagte er schließlich. "Ich muss jetzt los. Mach dir keine Sorgen, ich bin nicht lange fort. Pass' nur gut auf die Tasche auf. Und, noch etwas: Es wäre mir sehr Recht, wenn du nicht in die Tasche schaust, denn darin befinden sich wichtige und sehr persönliche Dinge von mir. Danke, dass du darauf aufpasst, während ich weg bin." Er stand auf und wandte sich zum Gehen, als ihm scheinbar noch etwas Wichtiges einfiel. Er fixierte mich noch einmal und fragte zögernd: "Verfolgst du eigentlich die Nachrichten?"
"Natürlich", antwortete ich. "Wieso?"
"Ach, nichts. Ich dachte … ist egal", sagte Thomas und verabschiedete sich. Dass er seinen gelben Anorak an meiner Garderobe zurückgelassen hatte, fiel mir erst auf, als er schon weg war.
Ich schaltete den Fernseher ein. Was sollte die Frage nach den Nachrichten? Was sollte diese ganze Geheimnistuerei, was hatte es mit der Tasche auf sich? Meine Nervosität wuchs, als ich die verschiedenen Nachrichtensender nach einer Schlagzeile absuchte, die ich mit Thomas in Zusammenhang bringen konnte.
Zunächst blieb ich an dem unscharfen Bild eines Mannes hängen, der einen gelben Anorak trug und mit einer Sporttasche aus einem Bankgebäude lief. Offenbar ein Bild von einer Überwachungskamera. Erst als sich dieses Bild in meine Netzhaut eingebrannt hatte, nahm ich die Stimme des Nachrichtensprechers wahr, der von einem Banküberfall in der Münchener Innenstadt berichtete.
"Der Täter konnte mit 32.000 Euro Bargeld entkommen und befindet sich momentan auf der Flucht. Die Polizei bittet um sachdienliche Hinweise. Der Täter trug bei der Tat einen gelben Anorak und versteckte das Geld in einer bläulichen Sporttasche, die nach Augenzeugenberichten abgenutzt aussah und keinen Markennamen trug."
Die Wanduhr in meiner Küche machte Tick-Tack. Seltsam, dachte ich, dass mir das Ticken nie zuvor aufgefallen war. So ein monotones Geräusch, geradezu nervtötend. Doch die Wanduhr war nun wirklich mein geringstes Problem. Wo doch ganz offensichtlich die Beute aus einem Bankraub hier in meiner Wohnung lag. 32.000 Euro in bar. Ich erhob mich aus dem Sessel, meine Beine waren wie Pudding. Mit unsicheren Schritten ging ich zu der Sporttasche hinüber und war kurz versucht, sie zu öffnen. Halt, schoss es mir durch den Kopf, das darfst du nicht. Vielleicht war alles ein Missverständnis. Es gab da draußen viele Menschen mit gelben Anoraks und blauen Sporttaschen.
Außerdem sagte Thomas, dass der Inhalt der Tasche für ihn sehr wichtig war. Ich durfte sein Vertrauen nicht missbrauchen.
Ich betastete die Tasche von außen. Es knisterte und raschelte. Geldscheine! Es konnte nicht anders sein. "Verdammt!", entfuhr es mir. Hatte dieser Idiot tatsächlich eine Bank überfallen! Und ich hatte mich von ihm mit in den Abgrund ziehen lassen. Alles nur wegen einer lächerlichen Geschichte aus Kindertagen. Und weil ich meine Neugier nicht unter Kontrolle hatte, befanden sich jetzt auch meine Fingerabdrücke auf der Tasche. Ich war geliefert. Aus dieser Sache konnte ich mich kaum herausreden. Wenn mich jemand entdeckte, war ich nicht nur meinen Job in der Stadtverwaltung los. Dann war ich als Krimineller überführt. Thomas hatte mich überlistet.
Ich ließ mich in den Sessel zurückfallen und überlegte fieberhaft. Mir fiel nur eine Lösung ein. Ich musste die Beute und auch den verdammten Anorak loswerden, und zwar sofort. Aus meinem Fenster werfen konnte ich das Zeug nicht einfach. Direkt vor meinem Wohnblock verlief eine der verkehrsreichsten Straßen der Stadt. Man würde mich sehen. Nein, ich musste mir einen ruhigen Fleck am Isarufer suchen und die beiden Teile einfach im Fluss versenken. Es galt lediglich sicherzustellen, dass mich auf der Straße niemand erkannte.
Hektisch durchwühlte ich meinen Kleiderschrank und kramte ein schwarzes T-Shirt, einen schwarzen Pullover und meine dunkelste Jeans hervor. Außerdem setzte ich meine schwarze Mütze auf und warf mir meinen schwarzen Ledermantel über. Bevor ich derart getarnt in die Nacht hinausging, packte ich den Anorak und die Sporttasche in einen kleinen Reisekoffer. Meine Mission endete jedoch bereits auf der Schwelle meiner Wohnungstür.
Als ich die Tür öffnete, sah ich mich zwei Polizisten gegenüber, die mich mit hämischem Grinsen musterten.
"Guten Tag, der Herr", sagte der eine der beiden, ein Mann undefinierbaren Alters mit einem
Dieser Text entstand für einen Kurzgeschichtenwettbewerb auf der Plattform www.bookrix.de. Er wurde 2014 erstmals veröffentlicht.
2015 erschien er im Sammelband des Autors: "Zufällige Bekanntschaften".