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Harndrang heimgesucht wurde.
Auf dem Weg zur Toilette fiel sein Blick auf den Schrank im Flur. Es handelte sich um ein handelsübliches hellbraunes Ding aus dem Möbelhaus. Seit ungezählten Jahren hatte er dieses Möbelstück mit großer Anstrengung und Meisterschaft ignoriert, doch nun nahmen seine aus dem Dämmerschlaf gerissenen Augen den Inhalt des Regals zum ersten Mal richtig wahr. Es waren Bücher. Obwohl ihn die Blase heftig drückte, blieb Wagmüller vor dem Regal stehen. Sanft strich er mit dem Finger über den Rücken einiger Bände auf dem obersten Brett. Seine Hand zitterte, als würde er gerade etwas Verbotenes tun. Wagmüller betrachtete die verschiedenen Farben der Einbände, las die Buchstaben auf dem Rücken, formte daraus Wörter und Namen, die ihm allesamt nichts bedeuteten. Langsam und vorsichtig zog er eines der Bücher aus dem Regal. Es war ein eher schmaler Band und wog nicht viel, doch schon hier war Wagmüllers Erfahrungsschatz im Umgang mit Büchern aufgebraucht. Erst hielt er das Buch unbeholfen in der Hand, weit weg von seinem Körper, so als wäre es nicht ein Druckerzeugnis, sondern das Baby einer fremden Person. Dann hob er es, ganz vorsichtig und zögerlich, näher an sein Gesicht, musterte eingehend den Deckel, roch an den Seiten, fühlte das Material, aus dem der Einband bestand. Mit einer langsamen und vorsichtigen Bewegung schlug er das Buch auf, und seine Augen registrierten zunächst nur: Buchstaben. Viele Buchstaben, mehr als er je zuvor auf einen Haufen gesehen hatte. Erneut spürte Wagmüller sein Herz heftig klopfen. Der Schweiß stand auf seiner Stirn. Ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte, bewegten sich seine Augen zu der obersten Buchstabenreihe, nahmen sie von links nach rechts wahr und schickten die Information an sein mittlerweile auf vollen Touren arbeitendes Hirn, das Wörter daraus formte: „Die Verwandlung“, dann „Franz“ und schließlich „Kafka“.
Wagmüller schlug das Buch wieder zu und stützte sich mit der Hand an der Wand ab. Ihm war schlecht. Er ließ das Buch fallen, rannte schnell auf die Toilette und entleerte dort seine Blase. Ein Blick in den Spiegel verriet ihm, dass seine Augen gerötet und seine Stirn schweißüberströmt waren. Was hatte er da gerade nur getan? Er hatte etwas gelesen, und damit gegen eine der elementaren Grundregeln verstoßen, die dafür sorgten, dass sein Leben ein angenehmes und unkompliziertes war. Lesen, das war für ihn seit jeher ausgemachte Sache, war etwas für Leute, die zu blöd zum Fernsehen waren. Und nun hatte er sich von einer wirren Empfindung mitreißen lassen und war selbst zu einer der bedauernswerten Kreaturen geworden, die ihre Abende mit Büchern verbrachten. Das heißt, noch nicht ganz. Noch bestand Hoffnung. Bis jetzt hatte nur den Buchtitel auf der ersten Seite gelesen. Das war schon schlimm genug, aber noch nicht unverzeihlich. Er hatte es aus purer Verzweiflung und Langeweile getan, es war sozusagen ein Versehen. Niemand durfte davon etwas erfahren, seine Arbeitskollegen nicht, die Jungs vom Stammtisch und erst recht nicht seine Frau.
Ihr war es schließlich zu verdanken, dass diese grauenhaften, zur Sünde verführenden Bücher in dem hässlichen Möbelstück überhaupt hier in der Wohnung standen. Sie war Schuld daran, dass er seinen Prinzipien Untreu geworden war. Ja, seine Frau hatte sich vor einigen Jahren eine Vielzahl Bücher zugelegt, von denen sie, das wusste Wagmüller nur zu gut, überhaupt erst ein oder zwei gelesen hatte. Im Grunde wollte sie mit dem Bücherregal nur ihren Freundinnen imponieren, diesen furchtbaren Schnepfen aus der gehobenen Mittelschicht, die sich bei ihren regelmäßigen Treffen im Café Puck damit brüsteten, dass sie wieder ein Buch gelesen hatten. „Ich sage euch, wunderbar lesbar – und so unterhaltsam!“, würde eine schnattern, und die anderen würden begeistert zustimmen und versichern, dass sie besagtes Buch umgehend selbst lesen würden. Zwar war sich Wagmüller sicher, dass es sich hier um heiße Luft handelte und dass diese Weiber genauso wenig je freiwillig ein Druckerzeugnis in die Hand nehmen würden wie er oder seine Frau, doch war seine Alte nun mal eine Person, die sich von einem solchen Verhalten verunsichern ließ. Daher der Bücherschrank in der Wohnung. Und er war derjenige, der es nun ausbaden durfte.
Hier lag es nun vor ihm auf dem Boden, dieses vermaledeite Buch, mit dem Einband nach oben, so dass Wagmüller den Titel „Die Verwandlung“ und den Namen „Franz Kafka“ schon wieder zu sehen bekam. Er blieb vor dem Corpus Delicti stehen und starrte es lange an. Was war nur los mit ihm? Woher kam dieses verdammte Verlangen, die ersten Seiten zu lesen? Er hatte nicht mehr aufgenommen als die Worte „Die Verwandlung“, und jetzt wollte er verflucht noch einmal wissen, wer hier verwandelt wurde, von wem und wieso. Hätte sein Fernseher nicht den Dienst verweigert, dann säße er nun bei einer Unterhaltungssendung oder einem Krimi, und beides könnte er einfach ausschalten, wenn es ihn langweilte, und dann würde er alles umgehend vergessen, so wie er es seit Jahren zu tun pflegte. Ja, er hätte sich berieseln lassen, hätte sich nicht anstrengen müssen, und er hätte es verdammt noch mal genossen. Das war für ihn ja das Schöne am Fernsehen: Er hatte nie das Gefühl, sich mit dem, was er sah, auseinander setzen zu müssen. Doch dieses unscheinbare, kleine Buch war anders. Es hatte seine Neugierde geweckt, und zwar derart heftig, dass es vergeblich war, dagegen anzukämpfen. Wagmüller bückte sich, hob es auf und ging damit zurück zum Sofa. Seine Hände zitterten nicht mehr, der Schweiß auf seiner Stirn war getrocknet. Beim zweiten Mal fühlte der Umgang mit dem Buch sich für ihn fast schon vertraut an. Seltsam, wie schnell so etwas gehen kann, dachte sich Wagmüller und ertappte sich im selben Augenblick dabei, schon wieder etwas gedacht zu haben.
Na gut, nun war es also soweit. Er würde das Buch lesen, ein echtes, auf Papier gedrucktes Buch. Aber nur, und diesen Schwur richtete er an alle Zuhörer im Raum, die es nicht gab, aber nur, weil es an diesem Abend nichts anderes für ihn zu tun gab. Gleich morgen würde er den Fernseher zur Reparatur bringen, würde sich um die Internet-Verbindung kümmern, und das hier würde eine einmalige Sache bleiben. „Niemand wird davon je erfahren“, sagte er laut in den Raum hinein. Dann schlug er das Buch auf, klappte es aber wieder zu, bevor er den ersten Satz gelesen hatte. Nein, das funktionierte so nicht. Er konnte die Sache nicht so locker angehen. Ihm war bewusst, dass das kein normaler Vorgang war, sondern eine höchst bedeutsame Sache. Ein Buch schlug man doch nicht einfach so auf und begann zu lesen. Oder doch? Plötzlich spürte Wagmüller einen Kloß im Hals. Er spürte eine sanfte Melancholie in sein Innerstes einziehen und war gleichermaßen erstaunt darüber, dass er plötzlich ein Wort wie Melancholie kannte.
In diesem Augenblick begriff er: Das Ende war nah. Er befand sich am Scheideweg. Wagmüller blickte hinüber zu seinem Computer, der auf dem Schreibtisch stand. Dann sah er den Fernseher an, der traurig, stumm und ohne Funktion auf dem kleinen Tischchen vor der Couch schlummerte. „Vergebt mir“, sagte er. „Es muss sein. Es hat nichts mit euch zu tun. Ich werde euch immer lieben, und das wisst ihr.“ Eine Träne kullerte ihm über die Wange, blieb kurz an seinem Kinn hängen und fiel mit einem leisen Platschen zu Boden. Mit bebenden Lippen blickte Wagmüller den Fleck auf dem Boden an. Tausend Worte kamen ihm in den Sinn, um die Form des Flecks zu beschreiben. Tausend Begriffe, um auszudrücken, was in ihm vorging. „Ich war eine Raupe, jetzt bin ich ein Schmetterling!“, rief er mit tränenerstickter Stimme dem Fernseher und dem Computer zu, die es jedoch auch weiterhin vorzogen, eisern zu schweigen. „Glaubt mit, es war schön mit euch, so schön. Ich werde immer daran denken – doch nun ist die Zeit gekommen, davonzufliegen“, deklamierte er, der noch vor kurzem gedacht hätte, dass „deklamieren“ ein Begriff aus der Werbung war. Dann schlug er das Buch erneut auf und begann, sich die Augen mit dem Ärmel trocknend, zu lesen: „Als Robert Wagmüller eines Abends aus einem lebenslangen Tagtraum erwachte, fand er sich auf seinem Sofa zu einem völlig neuen Menschen verwandelt.“
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Dieser Text entstand im Jahr 2014 und wurde erstmals auf meiner Homepage http://mark-read.info veröffentlicht.