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„Willst du die Post durchsehen?“, fragte Hannes, der mir gefolgt war. Ich warf einen flüchtigen Blick auf den Stapel mit Zeitungen und Briefen, der auf dem Tisch lag.
„Nein, aber lass uns schnell Oma und Mutter Kleve Bescheid geben, damit jemand hin und wieder ein Auge auf Opa wirft“, sagte ich.
„Opa befindet sich in der Laube und schläft. Er sitzt dort etwas schief und kippt hoffentlich nicht von der Bank hinunter. Sein Mund steht ein wenig geöffnet,“, informierte ich Mutti. Es waren die ersten Worte, die ich seit der Ohrfeige an sie gerichtet hatte. „Passt bitte auf ihn auf. Ich gehe mit Hannes zu Tante Selma.“
„Um halb eins gibt es Mittag. Sei bitte pünktlich“, gab sie zur Antwort.
„Ist eigentlich alles wieder in Ordnung zwischen Kora, Konny und dir?“, wandte ich mich an Hannes, als wir die kleine Dorfstraße erreicht hatten, die zu Tante Selmas Haus führt.
Wir hatten den schmalen Graspfad hinter uns gelassen, auf dessen rechter Seite sich der See erstreckt, mit den wunderschönen Teichrosen inmitten des grünlich gefärbten Wassers und den riesigen Schilfrohrgewächsen an der Verlandungszone, die von Weitem an ein undurchdringliches, sumpfiges Dickicht erinnern und deren Blätter smaragdgrün in der Sonne funkeln, sofern sie denn scheint. An jenen Stellen, wo der Sumpf trockener ist, wachsen Wollgras, Binsen und Sumpfdotterblumen, zwischen denen Frösche und Kröten umherspringen und um die Wette quaken. Ganz besonders ins Auge sticht jedoch die von der Gnädigsten vergötterte Sumpfzypresse, die ihr Vetter vor drei Jahren aus den Vereinigten Staaten zu ihrem vierzigsten Geburtstag importiert hat. Trotz ihres eindeutigen Namens gehört jene Pflanze keinesfalls zu den Zypressen, sondern bildet mit den Mammutbäumen eine eigene Familie. Konny hatte es gestern beiläufig erwähnt. Fest steht, dass sich dieses Gewächs im Lachauer See dermaßen wohl fühlt, dass es in nahezu beängstigender Weise in die Höhe schießt.
Auf der gegenüberliegenden Seite zittern die üppigen Tannenarme des Parks gen Himmel und rund um die farbenfrohen Blumenrabatte stehen, wie du längst weißt, Christine, etliche Johannisbeersträucher, die bereits abgeerntet sind. Letztes Jahr haben wir beide das Gros der Ernte eingefahren: von der Hand in den Mund nämlich.
„Ja, längst alles im Lot, Katja“, scheuchte mich Hannes aus meinen Gedanken. „Kora und Konny richten gnädigst wieder das Wort an mich. Sie freuen sich wahnsinnig darüber, dass ich zwei Tage lang nicht in ihrer Mitte weilen werde. Haben sie fast wörtlich so verkündet.“ – Hannes setzte sein freches Grinsen auf.
„Und das nennst du ‚alles im Lot‘?“, fragte ich fassungslos.
„Wieso?“, gab Hannes zur Antwort. „Auf diese Weise kommunizieren wir ständig. Sollte dir das noch gar nicht aufgefallen sein? Wo du doch durch die hohe Schule eines Jerry Cotton marschiert bist, und das auch noch während des regulären Unterrichts! Tss! Tss! – Übrigens, der gute Konny will mit dir zum Baden fahren, wenn ich weg bin. Kora bekommen nämlich keine zehn Pferde mehr in den Wald. Nimm dich bloß in acht, Katja.“
„Vor Konny?“, fragte ich ironisch und zog die Augenbrauen hoch. Hannes lachte. „Unsinn, vor dem Maskentyp natürlich, vor dem von allen so heiß geliebten Helge. Und sollte dir wider Erwarten große Gefahr drohen, dann vertraue dich meinem Vater an. Aber nur im äußersten Notfall, Katja, hörst du?“
„Aye, Aye, Sir“, murmelte ich und dachte: Soweit kommt es noch, dass ich mich bei Kröger ausheule.
Kora und Konny tobten wie wild mit Tom im Garten umher und bemerkten uns erst, nachdem wir schon einige Zeit auf der Bank vor dem Haus gesessen hatten. Hannes hielt meine Hand, und mir war zumute, als seien wir ein altes Liebespaar. Kora fragte mich sogleich, ob ich zum Mittagessen bleiben wolle. Sie war dermaßen aufgekratzt und vergnügt, als hätte sie das furchtbare Ereignis im Wald völlig vergessen. Umso besser, dachte ich. Das haben wir gewiss diesem zuckersüßen Kai zu verdanken.
„Bei uns gibt es heute Schnitzel mit Mohrrüben. Bleib doch hier, Katja. Der Kotzfleck aus meinem Kleid ist übrigens nach der Wäsche so gut wie verschwunden“, sagte Kora.
„Ich glaube kaum, dass Katja nach dieser Erläuterung noch auf irgendetwas Appetit hat“, mischte sich Konny in unser Gespräch.
„Daran liegt es wirklich nicht, Kora“, gab ich zur Antwort. „Ich habe meiner Mutter versprochen, pünktlich um halb eins zum Essen zu erscheinen. Oma und Mutti sind zur Zeit ohnehin nicht gut auf mich zu sprechen. Deshalb muss ich äußerst pünktlich sein.“
„Schade“ sagte Kora. „Aber du kommst doch nach dem Mittagessen wieder? Abgemacht?“
„Habt ihr euch irgendwas Besonderes vorgenommen?“, fragte ich.
„Nein, aber wir könnten eine Abschiedsparty für Hannes geben“, schlug Konny vor. „O prima“, rief Hannes erfreut. „Mit Lampions, flotter Musik und heißen Küssen von Katja und Kora.“
„Wir lassen das lieber mit der Abschiedsparty“, lachte Konny. „Sonst kommt Hannes tatsächlich am Mittwochabend zurück.“
***
Ich erschien dieses Mal überpünktlich zum Mittagessen, Christine, und half Mutti sogar noch beim Tischdecken. Oma hatte Hühnerfleisch gekocht. Dazu gab es Reis mit Erbsen und Karotten. Ich wagte nicht zu fragen, ob das Huhn aus dem hauseigenen Gehege stamme und wer es geschlachtet hat, denn Oma hatte dermaßen schlechte Laune, dass ich befürchtete, sie würde bei meiner Frage vor Wut zu platzen.
Mit großen bösen Augen überwachte sie das Tischgeschehen, und mich überkam doch tatsächlich eine wahnsinnige Angst, dass ich aus Versehen kleckern oder dass mir die Gabel aus der Hand rutschen könnte. Mutti und Opa schwiegen während des Essens, und ich war froh, als ich endlich aufstehen durfte.
„Katja, wo willst du schon wieder hin?“, fragte Oma im scharfen Ton.
„Zu Tante Selma. – Kora, Konny und Hannes erwarten mich. Oder soll ich beim Geschirrspülen helfen?“
„Nein“, sagte Mutti. „Geh ruhig zu Tante Selma. Ich helfe Oma mit beim Abwasch.“
„Du wirst noch sehen, was du davon hast, wenn du sie dermaßen verwöhnst, Martha“, brummte Oma.
„Warte, Katja, ich komme mit“. Opa stand demonstrativ auf und zog sich seine blaue Strickweste über.
„Und wohin verziehst du dich, Edmund?“, fragte Oma.
„Wo ich immer nach dem Essen hingehe, Anita. In unsere Laube selbstverständlich. Ein Nickerchen machen, was denn sonst?“, brummte Opa und zog die Tür hinter uns zu.
***
Am Dienstagmorgen erwachte ich sehr früh. Die Sonne hatte sich