Ruth - Page 55

Bild von Lou Andreas-Salomé
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Backfischstreiche noch hübscher geworden.

»Bist du auch wieder da?« rief Eriks fleißigste Schülerin sie an. »Ich möchte wissen, wozu? Ob dir's wohl angenehm ist, daß er immer nur Spott für dich hat?«

»Und Lob für dich; da zieh' ich mein Teil vor,« erwiderte sie mit Überzeugung. »Laß ihn nur spotten, das tut ihm gut, er ist bei schlechter Laune. Glaubst du, daß ihn dein Fleiß beglückt, mein geliebtes Gänschen?«

»Mehr als fleißig sein kann niemand,« bemerkte eine, die in Erwartung des Kommenden auf dem Fensterbrett saß und häkelte.

Wjera lachte boshaft: »Nun, er könnte noch allerlei andres schmerzlich vermissen, – zum Beispiel Verstand. – – Lieber Gott, was kann es nützen, sich so anzustrengen?«

»Warum bleibst du denn nicht weg? Du wolltest ja haben, was Ruth hatte, – du am meisten.«

Wjera saß nachlässig hingegossen, die Arme längs der Banklehne ausgestreckt, und schielte seitwärts in den kleinen Handspiegel, den jemand in der Nähe des Fensters angebracht hatte, und der immer umstanden war.

»Ich glaube nicht dran, daß er mit uns so ist wie mit Ruth,« murmelte sie, »es wäre der reine Betrug. Entweder hat uns Ruth gefoppt, – oder wir sind – dumm. Glaubt ihr etwa, Ruth meinte das, als sie so außer sich vor Entzücken sagte: ›O – – dahinter gibt es das ganze Leben?‹ Wir stehn noch vor der Mauer, – wie eine Hammelherde.«

»Na, so geh doch hinüber.«

»Ich werd' auch,« versetzte Wjera kurz, – »noch heute. Wollt ihr? Mit einem Satz! Aber daß ihr nicht schreit! Ihr könnt ja nachspringen.«

Im Nu drängten sie sich um sie, brennend vor Neugier.

»Was wirst du tun?!«

Sie erwiderte nichts. Sie hob nur das Gesicht ihnen entgegen und spitzte den Mund ein wenig.

»Ein Kuß?!«

Sie schrien jetzt schon.

Da trat Erik herein. Er bemerkte, daß sie zerstreut waren, beachtete es aber nicht. Wjera las vielleicht ganz richtig in seinen Augen: »Wie eine Hammelherde.« Er vermißte Ruth unter ihnen, nicht weil er sie liebte, er vermißte sie, weil sie ihn fortwährend angeeifert, fortwährend seine Geistesgegenwart verlangt hatte. Für sie mußte er auf der Höhe seiner selbst stehn, um niemals fehlzugreifen.

Das war hier unnütz.

Nach kurzer Zeit erhob sich Wjera und ging, ein Blatt Papier in der Hand, auf Erik zu. »Sollt' es möglich sein?« fragte er sarkastisch, indem er annahm, sie wolle ihm eine Arbeit vorlegen. »Es wäre das erste Mal.«

Sie stieg die beiden Stufen zum Katheder hinauf und beugte sich über ihn – so tief, daß er aufsah. Bei dieser Bewegung seines Kopfes berührten sich fast die beiden Gesichter.

Da durchgellte ein Schrei die Klasse, einstimmig. Sie hatten's nicht aushalten können.

Aber gleich darauf folgte ein zweiter, ganz anders im Ton: Wjera war, kaum daß der Schrei erscholl, hintenübergestürzt.

Erik selbst gingen Ursache und Wirkung durcheinander, ob der erste Schrei vorhergegangen, ob er gefolgt war, – ob sie sich niedergebeugt hatte, weil sie im Stürzen war. – Er hatte auch von dem Fall im Schulsaal gehört, und jetzt ergriff die Mädchen die Erinnerung daran mit kopflosem Entsetzen.

Die meisten sprangen auf, einige sprangen im plötzlichen Schreck auf die Bänke, – auf das Fensterbrett.

Erik brach sich Bahn. Er hatte die wie leblos Daliegende auf seine Arme gehoben und trug sie hin aus.

Als er raschen Schrittes den Gang entlang dem nächsten leeren Zimmer zuging, kam Leben in sie. Der ganze weiche, geschmeidige Körper bewegte sich, als strebe er, erzitternd, sich an ihn zu schmiegen; ihr Atem flog, wie um sich zu halten, schlang sie den Arm um seinen Nacken, und jetzt – jetzt fühlte sie deutlich, wie es ihn heiß überlief.

Blitz schnell, eh' er's nur gewahr wurde, hatte sie ihren Mund auf seine Lippen gedrückt.

Aber in der nächsten Sekunde fand sie sich schon auf ihre Füße gestellt – hart, so plötzlich, daß sie fast zusammengestürzt wäre. Eine sinnlose Wut überfiel ihn. Wie ein Bild stand vor ihm der Augenblick, wo er Ruth, wie ein lebloses Kind, in seinen Armen auf ihr Bett getragen hatte.

Er ergriff die verblüffte Spitzbübin beinahe brutal beim Handgelenk und zwang sie die wenigen Schritte bis an die hohe Flügeltür, die den Hallengang nach dem Treppenhaus zu abschloß. Er stieß die Tür auf.

»Hin aus! Ohne Wiederkehr!« sagte er kurz.

Sie errötete und erblaßte. Sie ging nur langsam hinunter, Stufe für Stufe, und hielt sich am Geländer. Was würden die andern in der Klasse wohl denken, wenn sie gar nicht wiederkam? Daß er ihr über die Mauer geholfen habe? Ja, gründlich. Mit einem Satz.

Und das Schlimmste; sie hatte eine gehörige Beule weg, grade vorn an der Stirn. –

Erik gab sich bei der Rückkehr in seine Klasse Mühe, der Stimmung Herr zu werden, die ihn peinigte und niederschlug. Er hatte sich jedesmal gewundert, den bildhübschen Nichtsnutz mit unbegreiflicher Hartnäckigkeit noch auf ihrem Platz dasitzen zu sehen und dennoch fest entschlossen, nichts zu lernen. Er hatte sich auch ein wenig gefreut. Weil sie ein kluges Ding war, voll Mutterwitz und Phantasie. Er wußte jetzt, von was für einer Art von Phantasie.

Aber lag es nicht an ihm? War es nicht an ihm, allen diesen jungen Menschen unausweichlich die Richtung zu geben? Auswüchse auszuschneiden, Fehlendes zu ergänzen, Schlummerndes zu wecken? Er hatte sich seiner Aufgabe wohl mit seinem Willen hingegeben, aber nicht mit seinem Herzen. Und kein noch so guter Wille vermochte sein mächtigstes Erziehungsmittel zu ersetzen: das war die Frische und Fülle der Stimmung, deren immer bereites Interesse sich auch noch in das Geringste eingrub, suchend, lockend, verständnistief. Und er bedurfte dessen ganz besonders. Denn seine Vorzüge wie seine Schwächen als Lehrer bestanden darin, daß er seine Persönlichkeit und seinen Unterricht nicht zu trennen wußte; gelang es ihm nicht, sich selbst zu geben, so mißlang ihm alles.

*

Am Torweg des Schulgebäudes wartete Jonas auf den Vater. Sie fuhren zusammen nach Hause aufs Land.

Im Eisenbahnwagen sagte Jonas: »Mama spricht jetzt immer davon, daß sie bald verreisen muß. Sie kann doch nicht so früh im Jahr ins Bad reisen?«

»Ich weiß noch nicht. Vielleicht wird es wünschenswert sein. In Deutschland ist es ja nicht mehr so früh im Jahr. Dagegen spricht nur, daß ich sie jetzt noch nicht selbst hinbringen kann. Das müßtest du dann tun, Jonas. Und sie würde Gonne mitnehmen.«

»Wenn ich erst Medizin studiere,«

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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