Im Watt - ein Hörspiel

Bild von Annelie Kelch
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Personen
JOHN
BETTY, seine Frau

Auf einer Bank vor ihrem Haus am Meer
die Rufe der Seevögel, leichter Wind -

Betty
Wir hätten niemals in dieses abgelegene Haus …

John
Aber damals – du wolltest unbedingt …

Betty
hierher. - Damals, ja.
seufzt

John
Begeisterung parodierend:
Die Gezeiten hautnah, der frische Wind,
die klare Seeluft, Salz auf den Lippen,
das Spiel der Dünen, die ungestörte Natur ...

Betty
resigniert:
Diese Ödnis, wo das Leben …

John
beginnt ...

Betty
endet.
weinerlich:
O, dieser ewige Nebel über dem Wasser,
der klammfeuchte Seewind, John.
Seit du Arbeit in den Docks gefunden hast
und erst spät am Abend heimkehrst,
fällt mir sogar der Himmel auf den Kopf,
dieser hoffnungslos graue Herbsthimmel, der ...

John
… besser ist als die Hölle. -
Du wolltest mit mir in völliger Einsamkeit – damals ...
verstummt.

Betty
leben. -
Damals, Johnny, ja.-
Vor fast einem Jahrzehnt ...

John
spöttisch, parodierend:
Wir lieben uns. Wir halten das aus – ohne Internet,
Handy, Glotze, diesen ganzen Schnickschnack.
Es wird himmlisch, John: das Meer, die Stille,
die Einsamkeit,
im normalen Tonfall:
deine Worte, Betty ...

Betty
seufzt tief
Wenn Shirley noch lebte … alles wäre anders,
besser. Ich vermisse unser Baby so sehr.
Zornig:
Dieser verfluchte, abscheuliche, kraftstrotzende …

John
ernst:
Es war der Große Priel, der sie uns genommen hat, Betty.

Betty
gereizt:
Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen. Er stieg aus dem Meer:
ein Koloss, hasserfüllt sein plattes Gesicht, die hervorquellenden bösen Glotzaugen,
grotesk: der Blumenkranz im bleichen Strohhaar, sein gemeines Grinsen,
als er sie an den schmächtigen Schultern packte und ...

John
fällt ihr ins Wort, ironisch, Verwunderung parodierend:
Neptun? Poseidon? Der Klabautermann gar, Betty?
Mit Gänseblümchen oder gar Strandnelken im strohigen
Bleichhaar? Hat Schluckauf bekommen, der alte Gauner,
und einen Tsunami ausgelöst? Wir können von Glück sagen,
dass unser Haus noch steht?
lacht bitter

Betty
schenkt seinen Worten keine Beachtung:
… sie mit sich ins Meer zog. O, John, wir
werden unser Baby nie mehr wiedersehen!

John
mit fester Stimme:
Wir werden sie wiedersehen, Betty … irgendwann …

Betty
deprimiert:
Leere Versprechungen! Träumereien!
Langgezogen:
Ver-ball-hor-nung!

John
ernst:
Du hast mich nie verstanden, Betty; das fällt mir in letzter Zeit
immer häufiger auf;
misstrauisch:
Womit warst du eigentlich an jenem Vormittag beschäftigt?
Wären deine Gedanken bei mir gewesen, hättest du meinen
Engel im Auge behalten.

Betty
empört:
Deinen Engel? Shirley war auch mein Kind, und ich habe sie im Auge
behalten. Sie saß stillvergnügt im Watt, vertieft in ihr Spiel mit den
hübschen bunten Kuchenformen, der himbeerroten kleinen Schaufel;
die Sonne strahlte vom Himmel herab, ich …

John
springt auf, wütend:
Du hast sie ins Watt gelassen? - Das hast du bisher mit keiner Silbe
erwähnt, Betty! Ich – wir - der Kommissar, alle glaubten, sie sei aus dem Haus
gelaufen und im Großen Priel …
verstummt

Betty
den Tränen nahe:
Es war Ebbe, John - die Flut war vollständig abgelaufen. O, unserKind war
ganz versessen auf den Schlick, verrückt nach den weißen Herzmuscheln,
die sie mit dunklem weichen Schlamm gefüllt hat, gab an jenem Morgen
keine Ruhe, wollte unbedingt hinaus ins Watt. Das Wetter war herrlich, erstaunlich
warm schon in der Früh; ich hatte jede Menge Arbeit: Marmelade einkochen,
Fische ausnehmen, Fensterläden streichen ...

John
stapft ins feuchte Watt, wütend:
Du musst den Verstand verloren haben, Betty: ein Kind, das kaum laufen konnte,
ins Watt zu setzen. Man kann die Gezeiten nicht nach der Armbanduhr berechnen,
das hast du gewusst, das weiß man, wenn man so nah am Meer lebt wie wir.
Du wolltest sie umbringen, verfluchte Megäre - mit deiner dummen Eifersucht
auf alles, was mir am Herzen liegt; sogar die Wattwürmer, die ich als Angelköder
benutze, verfolgst du mit deiner Eifersucht und deinem unbändigen Hass ...

Betty
ist ihm ins Watt gefolgt, schluchzt:
Er hat sie geholt. Er war es. Wenn ich es dir doch sage, John!
Nichts regte sich im Watt, nicht die kleinste Welle. Es war Ebbe.
Dann, mit einem Mal, wie aus dem Nichts: diese weiße Monsterwoge -
tobte mit rasender Geschwindigkeit in Shirleys Richtung. Ich sah sie
durchs Fenster auf unser Baby zurollen, rannte aus dem Haus, den Strand
hinunter - zu spät! Er tauchte aus dem Wasser auf, packte sie an ihren zerbrechlichen
kleinen Schultern, verschwand mit ihr im Meer.
deutet auf den Wattboden, eifrig:
Hier, John, hier ist es passiert; an dieser Stelle, wo das Seegras wächst,
muss es sich zugetragen haben.

John
während beide weiter ins Watt hinauslaufen,
John fünf Schritte voraus,
voller Bitterkeit:
Lügen! Nichts als Lügen! Du und deine ausufernde Fantasie! Und ich, ein Narr,
habe dir geglaubt, als du mir vorgegaukelt hast, wir könnten hier ein Leben lang
glücklich sein.

Das Rauschen des Meeres, sanft … entfernt … anschwellend

Betty
laut schluchzend:
O, sieh doch, John, die hohen Wellen … dort drüben ... schwappen
näher und näher, geradewegs auf uns zu – wie damals das weiße
Wogengetürm, dem der Unhold entstieg; schnell, John, wir müssen von hier fort …
ins Haus, komm mit mir ins Haus, lieber Johnny, ich bitte dich …

Das Rauschen der Wellen, nah, furios, als tobe ein Unwetter,
Gekreisch der Seevögel ...

Betty
stößt einen durchdringenden Schrei aus:
O, komm zurück, John! Lass mich nicht
allein an diesem unheilvollen Ort!
Bring ihn mir zurück, tückische Bestie, bring ihn
mir zurück, du wahnsinniges Meerungeheuer! -
Das Rauschen der Wellen verebbt

Betty
mit erstickender Stimme:
Jetzt glaubt er mir – jetzt, da es zu spät ist.
Jetzt muss er mir glauben.
Flehend:
O gütiger Gott, lass ihn die Wahrheit erkannt haben - und sei es in der letzten
Sekunde seines Lebens, damit er nicht im Zorn von mir gegangen ist.
O, John, mein Liebster, für Menschen wie wir wird es immer zu spät sein auf
dieser Welt, immer, immer, immer … !

Die Rufe der Seevögel, leiser werdend -

Stille

Interne Verweise

Kommentare

31. Okt 2016

Das Hörspiel als Gedicht -
Das stark in Worten spricht!

LG Axel

31. Okt 2016

Man dankt sehr herzlich für den feinen Spruch -
von solcher Art, als käm' er aus 'nem Gästebuch.

LG Annelie